Eine wohlmeinende Stimme hatte ihr noch abgeraten, und natürlich klang die wohlmeinende Stimme wie die Stimme ihrer Mutter, alle wohlmeinenden Stimmen klangen wie die Stimme ihrer Mutter, aber auch dieses Mal kam der Ratschlag nicht von ihrer Mutter, sondern von einem anderen Menschen, ihre Mutter war noch immer tot, wie jeden Tag, seitdem sie gestorben war, und wahrscheinlich hätte Anja auch dem wohlmeinenden Rat ihrer Mutter keinen Glauben geschenkt und wäre trotzdem aufgebrochen, und am Ende haben diese ganzen Konjunktivsätze keinen Zweck, sie ändern nichts an der Tatsache, dass Anja jene Bergtour unternommen hat, sie ändern nichts am kalten Wind, der dort oben wehte, in jener Felsspalte kurz unterhalb des Gipfels, und sie ändern auch nichts an den Schneemassen und den eisigen Temperaturen und daran, dass es für den Abstieg zu dunkel wurde und sie dort oben übernachten musste; diese ganzen Konjunktivsätze, sie bringen die beiden Zehen nicht zurück, und das Bild, es hat sich eingebrannt, sie waren schwarz geworden, die beiden Zehen, oder eher dunkelviolett, es sah vollkommen lächerlich aus, wie misslungene Theaterreliquien, doch es war keine Inszenierung, die Verfärbungen waren echt, ebenso die Stimme des Arztes, der ihr mitteilte, dass man ihr die Zehen abnehmen müsse, er sagte explizit abnehmen und nicht amputieren, gerade so, als wären ihre Zehen eine Last, von der sie befreit werden müsse, doch das waren sie nicht, es waren ihre Zehen, es waren Teile ihres Körpers, und dann waren sie weg, sie fehlten, daran änderten auch die Zehenprothesen nichts, die der Arzt an ihrem Fuß befestigte, Prototypen, sagte er, ein Pilotversuch, die Prothesen seien neue Fabrikate eines Start-up-Unternehmens, natürlich für Anja vollkommen kostenlos, und er hoffe, dass sie damit wieder ganz normal werde gehen können, es sei gut möglich, nur tanzen, nein, tanzen werde sie wohl nie mehr können, meinte der Arzt und grinste dabei, als ob er einen Witz gemacht hätte, doch das war kein Witz, das war der bitterste aller Ernste, und Anja weiß nun, dass ein brechendes Herz und eine zusammenstürzende Welt genau das gleiche Geräusch machen; nicht tanzen zu können, das ist wie nicht atmen zu können, mit dem Unterschied, dass sie ohne das Tanzen weiterleben musste, was ihr ohne das Atmen erspart geblieben wäre, und seitdem ihr die beiden Zehen abhandengekommen waren, tanzte sie nur noch in ihrem Kopf, noch häufiger und intensiver als zuvor, immer wieder bewegte sich ihr gedankliches Ich über die Bühne, während das reale Ich immer kälter und bleicher wurde, und als Anja gefragt wurde, ob sie die künstlerische Leitung einer Tanzaufführung übernehmen wolle, sagte sie zu, ohne zuvor zu überlegen, obwohl sie bald erkannte, dass ein Überlegen wohl angebracht gewesen wäre, und eine wohlmeinende Stimme hätte ihr womöglich davon abgeraten, und natürlich hätte die wohlmeinende Stimme wie die Stimme ihrer Mutter geklungen, doch sie ließ keinerlei Stimmen die Gelegenheit, sich wohlmeinend zu äußern, sondern nahm das Angebot an, und in den ersten Wochen war sie vom rauschhaften Reiz des Ungewohnten beinahe überwältigt, jede Sekunde im Übungsraum war durchdrungen von einer Lebendigkeit, die ihr in den Jahren zuvor nur noch als Erinnerung begegnet war, jeder getanzte Moment war ein Geschenk, und die Tänzerinnen und Tänzer waren die Botschafter eines neuen Entzückens, und von jenen Menschen, mit denen Anja im Übungsraum an der Tanzaufführung arbeitete, war ihr eine Frau noch näher am Herzen als die anderen, eine junge Tänzerin namens Irina, und in dieser Irina erkannte Anja eine jener höchst raren Künstlerinnen, die nicht nach vorgegebenen Normen tanzen, sondern ihre eigenen Maßstäbe setzen, ihre eigene Sprache finden und damit Dinge auszudrücken vermögen, die selbst geschulten Tänzerinnen und Tänzern fremd bleiben, und während sie sich mit der ganzen Gruppe sehr stark und intensiv auseinandersetzte, entwickelte Anja für Irina ein ganz besonderes Interesse, eine beinahe organische Zuneigung, und natürlich stand Irina im Zentrum der Inszenierung, beinahe jede Aktion der übrigen Mitwirkenden schien sich auf Irina zu beziehen, auf diesen Mittelpunkt der kleinen Welt, die auf der Bühne entstehen sollte, und in der Zeit während der Proben bemerkte Anja, dass sich die Tänze in ihrem Kopf veränderten, diese gedanklichen Bewegungen ihres eigenen Körpers, sie glichen sich immer mehr den getanzten Figuren von Irina an, und bisweilen fiel es Anja schwer, eine klare Trennung zwischen Irina und ihr selbst zu schaffen; wenn sie Irina vor ihrem inneren Auge tanzen sah, kam es vor, dass sich ihr eigenes Antlitz zeigte, und dieses Verschwimmen der Persönlichkeiten, es drang auch immer häufiger ins reale Geschehen ein, beeinflusste die Proben und die Aufführung, weil Anja sich immer stärker auf Irina fokussierte, sich noch intensiver mit ihr befasste und dabei allmählich jegliche Distanz vermissen ließ, jeder Fehltritt von Irina erzeugte bei Anja einen spürbaren Schmerz, jede Herausforderung schien sie im tiefsten Innern aufzuwühlen, und wenn sie mit Irina sprach, geriet Anja wiederholt auf eine sehr persönliche Ebene, wurde zunehmend verletzend und besitzergreifend und radikal, pendelte zwischen leidenschaftlicher Empathie und ungezügelter Geißelung, ohne zu bemerken, dass ihr die Kontrolle entglitten war, sie wurde stetig furioser und besessener, und als Irina dann plötzlich opponierte und sich mit großer Empörung zur Wehr setzte, verlor Anja die letzten Reste der Mäßigung, brüllte so laut, bis ihr die Stimme wegbrach, und schlug Irina dann mit der flachen Hand und voller Wucht ins Gesicht, woraufhin diese zuerst zu Boden stürzte und dann zeternd aus dem Proberaum stürmte und nicht mehr zurückkehrte, und dass Anja daraufhin die künstlerische Leitung der Tanzaufführung entzogen wurde, war ihr egal, es war ihr sogar durchaus willkommen, denn ein Weitermachen wäre ihr wohl kaum mehr möglich gewesen, zu tief schien der Graben, in den sie gestürzt war, ein Graben, in welchem es ähnlich kalt und einsam war wie damals in der Felsspalte unterhalb des Gipfels, und als sie nach langen, kalten und dunklen Monaten endlich aus dem Graben herausgekrochen war, verspürte Anja in jedem ihrer Muskeln einen unerklärlichen Schmerz, eine lähmende Taubheit, die sich nicht mehr abschütteln ließ und bis zum heutigen Tag anhält, und seit einiger Zeit arbeitet Anja in einem Kaffeehaus hinter dem Tresen, bereitet Cappuccino und Latte Macchiato zu, bedient die Kunden mit einstudierten Bewegungen und lächelt ein automatisiertes Lächeln, und in gewissen Momenten, wenn gerade niemand im Lokal ist, macht sie einige Tanzschritte hinter dem Tresen, ganz behutsam und vorsichtig, beinahe ängstlich, und manchmal verspürt sie dabei ein leichtes Stechen in ihrem Fuß, und Anja weiß nicht, ob es die Prothesen sind oder die Geister ihrer toten Zehen, und dann lauscht sie, ob sie irgendwelche wohlmeinenden Stimmen hört, doch da sind keine wohlmeinenden Stimmen, da sind nur die seelenlosen Melodien der Kaffeehausmusik und das unaufhörliche Surren der großen Kaffeemaschine.

Wie so oft lässt Du der Geschichte ein Hintertürchen, einen Fluchtpunkt noch diesseits des Jenseits. Wird es Anja bewusst, dass der Tanz eines ihrer Wesensmerkmale ist? Dass sie immer tanzen wird wie ein Mundmaler malt? Wird Anja noch träumen…?
Fragen, die sich eine Fortsetzung wünschen und wer Wohl meint, gibt Fürsorge seine Stimme…
Liebe Feengrüße ✨
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Es ist zu hoffen, dass sie noch träumen kann, wieder träumen kann, die Tänzerin in ihr wieder entdeckt und auf die inneren Bühnen bringt…
Vielen lieben Dank dir für deine wunderbaren Worte, und herzliche Grüsse zurück!
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Ich musste daran denken, dass z.B. Pianisten ihre Hände sehr hoch versichern lassen gegen alle Unfälle und so.
So ist es wohl auch bei Tänzern – doch was allein ist Geld, wenn das gesamte Lebensbild weggebrochen oder wie hier – weggefroren ist.
Sicher kann ich mich nicht richtig in so einen Menschen hineinversetzen, aber es muss schrecklich sein.
Lieben Gruß zu dir
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Ich denke auch, dass man mit Geld nicht aufwiegen kann, wenn die grösste Leidenschaft geraubt wird. Und ja, es muss tatsächlich schrecklich sein, in gewissen Fällen vielleicht sogar unerträglich…
Vielen lieben Dank dir für deine Worte und herzliche Grüsse zurück
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