Die Kinder, sie mögen Lehrer Herrmann. Er hat zwei Männer im Namen, den Herrn und den Mann. Seine Augen sind ganz klein, doch manchmal, wenn er redet, werden sie riesig groß, dann sieht es so aus, als würden sie gleich aus ihren Löchern kullern. Lehrer Herrmann wird nie laut, er ist immer freundlich, er macht häufig Witze, die gar nicht wirklich witzig sind, aber weil Lehrer Herrmann so lustig lacht, lachen die Kinder mit. Hin und wieder jedoch erzählt Lehrer Herrmann von Dingen, mit denen die Kinder nichts anfangen können, sie verstehen gar nicht, worum es geht. Das liege daran, dass Lehrer Herrmann ein spezieller Lehrer sei, sagen die Eltern. Er sei ein Professor und habe zuvor nie mit Kindern zusammengearbeitet. Weil er aber keine andere Stelle gefunden habe und schließlich arbeiten müsse, um Geld zu verdienen, sei er nun ihr Lehrer. Die Kinder wissen nicht so ganz, was das alles bedeutet, aber es ist ihnen egal, sie sind froh, dass Lehrer Herrmann ihr Lehrer ist, denn eben, sie mögen Lehrer Herrmann. Und wenn er etwas erzählt, das sie nicht verstehen, fragen sie einfach nach. Dann versucht Lehrer Herrmann, es ihnen zu erklären. Manchmal gelingt das gut. Manchmal nicht so ganz.
Einmal fragt Lehrer Herrmann die Kinder, ob sie wissen, was Freiheit ist.
«Das ist, wenn man nicht im Gefängnis ist», sagt Tim, ohne sich zuvor zu melden, und Tim muss das wissen, denn sein Vater war mal im Gefängnis.
«Ja, das stimmt», gibt Lehrer Herrmann zurück. «Aber das ist noch lange nicht alles.»
Er atmet kurz durch, dann redet er weiter.
«Freiheit ist kein absoluter Begriff. Und Freiheit ist kein Konzept von grenzenlosem Charakter. Freiheit braucht Grenzen, sonst könnte das Gefüge, zu welchem die Freiheit in Kontext gestellt wird, nicht funktionieren. Das gilt nicht zuletzt auch für die Redefreiheit. Wer verlauten lässt Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, der sollte zunächst prüfen, ob man das An- und Ausgesprochene auch tatsächlich sagen darf, ohne geltende Regeln, Vorschriften oder eben Grenzen zu verletzen. Dass es diese Grenzen auch im Bereich der Redefreiheit gibt, ist zwingende Voraussetzung für ein grundlegendes Funktionieren der Gesellschaft. Ohne diese Grenzen würde sich noch stärker manifestieren, dass Meinungen von jenen gemacht werden, die am lautesten schreien.»
Als Lehrer Herrmann zu Ende gesprochen hat, haben die Kinder wieder einmal Fragezeichen in den Augen. Lehrer Herrmann bemüht sich, die Sache ganz einfach zu erklären.
«Ihr dürft – hier und wahrscheinlich auch zu Hause – fast alles sagen, was ihr wollt. Nur manche Sachen, die solltet ihr nicht sagen. Wenn ihr sie sagen würdet, hätte das Konsequenzen.»
«Was sind denn das für Sachen?», will Alina wissen und macht Lehrer Herrmann damit ganz schön nervös.
«Naja, halt böse Sachen. Schimpfwörter. Sachen, die anderen Menschen wehtun.»
«Was denn zum Beispiel?», hakt Alina nach und macht Lehrer Herrmann noch nervöser.
«Hmm.»
«Darf man Scheiße sagen?», ruft der kleine Leon und bringt dadurch die ganze Klasse zum Kichern.
«Scheiße ist nicht schön, aber auch nicht so schlimm, finde ich», antwortet Lehrer Herrmann und klingt dabei ganz vorsichtig.
«Was ist denn schlimmer als Scheiße?», will Leon wissen.
Lehrer Herrmann überlegt. Dabei wirft sein Gesicht ganz tiefe Falten.
«Wenn zum Beispiel jemand zu dir sagen würde, dass er dich hasst und dass er zu dir nach Hause kommen werde, um dich ganz heftig zu verprügeln. Das wäre schlimm, oder?»
«Ja», gibt Leon kleinlaut zurück. Die Vorstellung, von jemandem verprügelt zu werden, jagt den Kindern einen sichtbaren Schrecken ein.
«Das macht Angst und tut irgendwie weh, wenn dir das jemand sagt, oder?», fragt Lehrer Herrmann.
Leon nickt und knabbert an seiner Unterlippe.
«Nun, etwa dort sollte die Grenze der Redefreiheit sein. Dort, wo es verletzend ist oder sogar gefährlich wird.»
«Wieso denn gefährlich?», fragt Alina.
«Weil derjenige, der dir gesagt hat, dass er dich verprügeln werde, vielleicht nur eine große Klappe hat und es gar nicht tun würde, aber das, was er gesagt hat, wird von einem anderen Mann gehört, einem bösen Mann, und der macht es dann tatsächlich.»
Alina schluckt irgendetwas hinunter, schaut zunächst auf den Boden und dann zu Lehrer Herrmann. Er beruhigt sie und sagt, dass sie keine Angst haben müsse. Dann spricht er weiter über diese Redefreiheit, bringt andere Beispiele. Manche verstehen die Schüler, manche auch nicht. Seine Augen werden immer wieder ganz groß, aber sie kullern nicht aus den Löchern. Als die Schulstunde vorbei ist, verabschieden sie sich von ihm. Sie mögen Lehrer Herrmann. Und sie sind ziemlich sicher, dass er sie auch mag.

Gib nicht auf, was du weißt, nur weil es schwer zu vermitteln ist.
LikeGefällt 1 Person
Umso schöner, wenn es Menschen gibt, die das schwer zu Vermittelnde scheinbar einfach zu vermitteln vermögen… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
LikeGefällt 1 Person
Lehrer, die gleichzeitig gut und auch gerne erklären sind die, die wir uns alle wünschen und immer gewünscht haben.
Lehrer Hermann scheint so einer zu sein, auch wenn er eigentlich überqualifiziert ist.
Er liebt die Menschen und Kinder liegen ihm wohl am Herzen. Eine gute Basis und die Kinder lieben ihn, denn sie merken, er mag sie und wie wichtig ist das fürs Zusammenarbeiten.
LikeLike
Vielleicht kann man auch gar nicht überqualifiziert sein im Umgang mit Kindern… Ja, sich gegenseitig zu mögen und zu schätzen, das ist wohl eine sehr gute Basis, um zusammenzuarbeiten und voneinander zu profitieren.
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni, und herzliche Grüsse…
LikeLike
Kannst du nicht diesen Lehrer Herrmann clonen und dann überall durch das Land schicken. Vielleicht würden ihn doch einige von den Großmäulern in jetziger Zeit verstehen.
LikeLike
Bei den Leuten mit den grossen Mäulern sind dafür häufig die Ohren so klein… Aber ja, versuchen kann/sollte/muss man es. Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
LikeGefällt 1 Person
Wenn es nur die Ohren wären, haha. Wenn aber zu wenige Windungen im Gehirn und zu wenig Denkmasse vorhanden ist, dann sieht es schon viel schlechter aus.
LikeGefällt 1 Person
Das stimmt, ja, eine ungute Kombination…
LikeLike
Klasse. Und erinnert mich an meine erste Grade 4. Ich kam als generell ausgebildete Bibliothekarin an eine englischsprachige Internationale Schule für deren Schulbibliothek (andere Stellen gab es nicht) und konnte zunächst gar nicht mit Kindern umgehen. Besonders schlimm war für mich, wenn ich mit in Klassen musste und die Lehrer unterstützen, quasi als zweite Lehrkraft, das war Usus. Wir haben einmal so ähnlich wie Lehrer Herrmann über Freiheit über Antisemitismus gesprochen. Lehrreich für beide Seiten, obwohl das Niveau noch nicht ganz stimmte. Danach klappte es.
LikeGefällt 1 Person
Das klingt sehr spannend und interessant und bereichernd! Gute Lehrerinnen und Lehrer sind ungemein wichtig und wertvoll… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Erinnerungen! Herzliche Grüsse…
LikeGefällt 1 Person
Es war sehr bereichernd, schon weil das System sehr anders ist als das deutsche, wo sehr viel nur stures Lernen ist. Ich habe an diesen Internationalen Schulen gelernt wie es geht, dass Kinder und Jugendliche sich wirklich eigene Meinungen bilden können und da war auch das Zwischenmenschliche anders. Es gab natürlich Druck, das sind Privatschulen, und in dem Fall waren da viele Kinder „großer Tiere“, die Eltern wollen ihre Kinder also irgendwann auf Elite-Kisten sehen, aber dieses Alle gegen Alle, das ich aus Deutschland kannte gab es nicht. Ich habe das hinterher noch an anderen Schulen gemacht und es war überall so. (Deshalb gab es auch immer wieder deutsche Eltern, die ihre Kinder von den Schulen genommen haben, die kamen mit diesem anderen Wertesystem nicht zurecht.)
Ebenfalls herzliche Grüße!
LikeLike
Das klingt sehr spannend, diese Unterschiede der Schul- und Lernkulturen. Ganz unabhängig vom System find ich’s enorm wichtig, dass sich Kinder eigene Meinungen bilden und auch einen eigenen Charakter entwickeln und leben können…
Vielen Dank nochmals für deine Worte!
LikeGefällt 1 Person
*lächel*
Überqualifiziert zu sein, muss nicht immer bedeuten, dass mann/frau über alle Köpfe hinwegredet …
Feine Klasse 🌟🌟🌟
Liebe Grüße vom Finbar
LikeGefällt 2 Personen
…und für manch einen mag die gemeinsame Arbeit mit einer Grundschulklasse durchaus erfüllender sein als ein Professorendasein…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar. Und herzliche Grüsse zurück…
LikeGefällt 2 Personen
Mit Sicherheit, lieber Disputnik!
Der Prof lernt von den Kids Dinge über die Menschlichkeit
und die Kids vom Prof Dinge über
die Freiheit …
Herzlich, Finbar
LikeGefällt 2 Personen
Das ist/wäre sehr schön so!
LikeGefällt 1 Person
🌟🌟🌟
LikeLike