Leise rieselt der Schnee. Die Welt ist so dicht eingehüllt, dass fast nichts mehr klingt, nur in der Ferne glaubt sie das Brummen eines Schneeräumungsfahrzeuges wahrzunehmen. Sie schließt das Badezimmerfenster wieder und stellt sich vor den Spiegel, drückt sich ein wenig Körperlotion in die Handfläche und beginnt, ihre Haut einzureiben. Sie mag das, mag diese Vergegenwärtigung ihres Körpers, mag diese Minuten im Bad, losgelöst von den Dingen und der Zeit der Tage, allein mit ihrem Körper. Dieser Körper. Bisweilen ist er wohl der einzige Verbündete.
Auch im Badezimmer, in der Innigkeit und Wärme dieses engen Raumes, geht die Angst nicht weg. Es kommt. Unweigerlich, erbarmungslos. Diese Gewissheit, sie lähmt ihre Sinne, ihren Verstand, und manchmal, außerhalb des Badezimmers, lähmt sie auch ihren Körper, diesen Verbündeten. Es kommt. Und sie kann nichts dagegen tun, ist ihm ausgeliefert, wehrlos, machtlos, wie alle anderen.
Sie geht ins Schlafzimmer und legt sich auf die Matratze, ohne sich anzukleiden. Ihre Hand gleitet über ihre Haut und kommt auf dem Bauch zur Ruhe. Sie sieht sich um, ihr Blick streift den kleinen Riss in der Decke, die kahle Wand, die vereinzelten kleinen Bilderrahmen. Die Fotos ihrer Eltern, ihrer Schwester, einige Momente mit Freunden, Urlaubsfotos. Alles hat seine Zeit, denkt sie. Und wenn keine Zeit mehr da ist? Sie blinzelt einige Male. Draußen vor dem Fenster hängt ein grauer Himmel über dem Land. Leise rieselt der Schnee.
Es begann vor Wochen, Monaten, vielleicht sogar vor Jahren. Die Zeit spielt längst keine Rolle mehr, hat so viel Kraft verloren. Sie ist erstaunt, wie schnell man sich an eine solche Situation gewöhnen kann, wie leicht man sich in neue Umstände fügt, obwohl sie weiß, dass es nicht einfach war, alles andere als das. Da war eine Traurigkeit, so heftig und tiefgreifend, dass die Knochen schmerzten, so erschütternd wie sie es noch nie auch nur ansatzweise verspürt hat. Da war ein Entsetzen, das die Muskeln in eine brennende Anspannung versetzte, die sich nie mehr richtig löste. Das Wegbrechen des Gewohnten, es wurde zur konstanten Realität. Jedes Ereignis erzählte die gleiche Geschichte, erzählte davon, dass es kommt. In jeder Faser ihres Körpers, dieses einzigen Verbündeten, scheint die Information abgespeichert zu sein. Es kommt.
Sie erinnert sich nicht mehr an den Moment, in welchem sie erkannte, dass es keinen Ausweg mehr geben konnte, kein Entrinnen, keine Rettung. Und sie weiss nicht mehr, wie es sich anfühlt, wenn der Zukunft noch Möglichkeiten innewohnen. Wenn sie ihre Gedanken in die kommende Zeit entweichen lassen will, prallen sie ab, an einer unsichtbaren Wand, kurz nach der Gegenwart. Vielleicht gibt es ein Morgen. Vielleicht auch ein Übermorgen. Doch es kommt. Und wenn es da ist, hört alles auf.
Es ist nicht sonderlich warm im Schlafzimmer, aber sie friert nicht. Sie könnte sich anziehen und Dinge tun, aber das Tun von Dingen hat an Reiz verloren, also bleibt sie liegen. Sie atmet den Duft ihrer Haut ein und denkt an die Körperlotion. Eigentlich ist sie sinnlos, die Körperlotion. Der Körper braucht keine Pflege mehr. Dieser Körper. Vielleicht ist es das letzte Aufbegehren. Der finale Versuch, der Angst die Stirn zu bieten. Ein Suchen nach Trost und Weichheit. Sie hält den Atem an und lauscht, doch sie kann das Brummen des Schneeräumungsfahrzeuges nicht mehr hören. Womöglich haben sie aufgehört, haben aufgegeben. Sie liegt in der Stille und blickt aus dem Fenster. Leise rieselt der Schnee. Es kommt.

Ich lese es wie die letzte Würde eines gelebten Lebens. Recht ergreifend geschrieben.
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Das klingt sehr schön, vielen lieben Dank dir!
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Gerne
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Bei den Wahnsinnsschneemassen überall hochaktuell.
So müssen sich auch Menschen fühlen, die vom Hochwasser eingeschlossen sind.
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Ja, die Worte sind bestens auf die Witterung abgestimmt 😉
Ausweglosigkeit zählt wohl zu den unfreundlichsten Gefühlen…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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…geheimnisvoll…
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So soll’s sein 😉
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse!
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🌟 have a pleasant day 🌟
Herzliche Grüße vom Finbar
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Es liest sich eher wie eine Depression, als dass es geheimnisvoll wäre.
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Ich mag Deutungsfreiheit… Vielen Dank dir fürs Lesen.
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Du könntest recht haben 🦉
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Nach deinem Kommi habe ich es mir noch einmal durchgelesen.
Der Verdacht klingt aber eindeutig.
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Das klingt doch gut 🌟
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Solche Geschichten animieren zu mehrmaligen lesen. 😉
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Unbedingt! 👀
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😁
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🦉
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Eindeutigkeit und Deutungsfreiheit vertragen sich nicht sonderlich.
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Das stimmt.
Ich nehme heute einmal die Eindeutigkeit, bitte. 😉
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Ganz wie du magst 😉
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Hahaha….Danke.
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Ich bin für eindeutige Deutungsfreiheit für alle und danke für dieses geheimnisvolle Feinstlesegewirke einer unter Umständen Depressiven. Auf mich wirkte sie etwas schwermütig und nachdenklich. Na, weil es eben kommt. Auch zu mir irgendwann. Da gibt’s nix dran zu rütteln. Mich wundert dass ich so fröhlich bin….🧐Doch zwischendurch, wenn ‚es’ einfach mal so aus Spaß irgendwo zuschlägt, einen treffend, den ich kannte und manchmal nach Trauerzeiten dann meine Augen im Spiegel. Zu wissend, zu alt. So alt wie du schon bist wird keine Kuh, denke ich mir dann immer gemütlich und das beruhigt mich.
Lieben Dank auch für den humorig-nachsinnend feinen Kommentarverlauf.🧚♀️
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«So alt wie du schon bist wird keine Kuh» scheint mir eine äusserst gesunde und beruhigende Einstellung zum Lauf der Zeit zu sein.
Ja, es kommt, es erwischt uns alle irgendwann, dafür muss man weder depressiv noch endstationssehnsüchtig sein. Umso schöner, wenn zuvor das Fröhlichsein noch weitgehend gelingt…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! (Und ja, in den Kommentaren tun sich bisweilen dankenswerterweise ganz neue Welten auf, das ist schön.)
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