Er war noch ein kleiner Junge, als Max den Zeigefinger seiner linken Hand in einer Autotür einklemmte. Es war ein Opel, die Farbe ein warmes Orange. Der Wagen stand vor dem Haus, in dem er wohnte, und gehörte Herrn Felsberg. (Vielleicht wusste Max damals, warum Herr Felsberg bei ihnen zu Besuch war und wer Herr Felsberg überhaupt war, doch heute hat er es längst vergessen und wundert sich, warum er sich an diesen Namen erinnert, während so viele andere Namen auf der Strecke geblieben sind.) Es war Sommer, wahrscheinlich, denn in dieser Kindheitserinnerung trug Max kurze Hosen, und überhaupt spielten sich die meisten seiner Kindheitserinnerungen im Sommer ab. (Er weiß nicht, ob er als Kind im Sommer mehr erlebte als im Winter oder ob das Gedächtnis Ereignisse bei warmen Temperaturen zuverlässiger speichern konnte oder ob früher einfach mehr Sommer war. Früher war jedenfalls auch mehr Winter, zumindest mehr Schnee im Winter. Vielleicht wohnte den Jahreszeiten früher einfach mehr Substanz inne. Vielleicht war und ist das alles aber dann doch nicht so einfach.) Herr Felsberg hatte nur noch wenige Kopfhaare, sie sammelten sich in der Nähe seiner beiden Ohren, während der Rest des Kopfes unbehaart war, abgesehen von einem Schnurrbart, der sich bemühte, eine kleine Narbe über der Oberlippe zu kaschieren. (Haare sind seltsame Elemente einer körperlichen Erscheinung. Ein einzelnes Haar ist absolut nichtig, es ist praktisch unsichtbar. Erst in geballtem Auftreten haben die Haare einen Einfluss auf das Aussehen eines Menschen, dann jedoch äußerst bedeutsam. Max erinnert sich an eine Nachbarin, die er sehr mochte. Sie hatte lange blonde Haare, die wie ein weicher goldener Strom um ihr Gesicht flossen und ihr eine zauberhafte Ausstrahlung verliehen. Eines Tages schnitt sie sich aber aus ihm unbekannten Gründen die gesamte Haarpracht ab, ließ nur kurze Stoppeln übrig. Danach sah sie nicht mehr schön aus, sondern eher traurig oder furchteinflößend, und Max ist sich ziemlich sicher, dass er nach ihrem radikalen Haarschnitt kein Wort mehr mit ihr gesprochen hat.) Er fragt sich, warum er überhaupt in die Nähe des Wagens von Herrn Felsberg gekommen war, denn mit ziemlicher Sicherheit hatte er dort nichts zu suchen gehabt. Vielleicht hatte er Herrn Felsberg geholfen, etwas ins Haus zu tragen, und danach die Wagentüre zugeworfen und dabei den Zeigefinger seiner linken Hand eingeklemmt. (Es ist vielleicht nicht die Wahrheit, aber es ist ein möglicher Verlauf der Geschehnisse an jenem Tag, und vielleicht muss er sich damit begnügen. Vielleicht ist das Vielleicht die verlässlichste Einschätzung der Vergangenheit. Vielleicht wird jede Erinnerung, die zunächst so klar und sicher und korrekt schien, im Lauf der Zeit zu einem Vielleicht.) Als Max ein Kind war, lag im Namen von Herrn Felsberg eine unerklärliche Wichtigkeit. Wenn von Herrn Felsberg die Rede war, ging es meistens um wichtige Dinge, zumindest glaubt er das. Herr Felsberg war von Bedeutung, auch wenn Max längst nicht mehr weiß, um welche Art der Bedeutung es sich gehandelt hatte. Und es vielleicht schon damals nicht wusste. (Die Dinge von Bedeutung in den Augen von Kindern sind wohl ganz andere Dinge als die Dinge von Bedeutung in den Augen von Erwachsenen. Vielleicht ist die ganze Welt in den Augen von Kindern eine ganz andere Welt als die ganze Welt in den Augen von Erwachsenen. Mit steigendem Alter werden die Augen jeweils schlechter, und Max weiß nicht, was das für die Dinge von Bedeutung und die ganze Welt bedeuten mag.) Wenn Max auf seine linke Hand blickt, kann er keine Narbe entdecken, die auf ein heftiges Einklemmen in einer Autotür schließen ließe. Vielleicht war das Einklemmen gar nicht sonderlich heftig. Vielleicht war es auch der Zeigefinger seiner rechten Hand, obschon auch dort keine entsprechenden Spuren zu sehen sind, ebenso wenig an einem anderen Finger einer seiner beiden Hände. Vielleicht hat sich der eingeklemmte Finger auch einfach vom schmerzhaften Zwischenfall erholt, ohne eine Narbe zu hinterlassen. Die Zeit heilt keineswegs alle Wunden, aber vielleicht hatte sie bei dieser einen Wunde Erfolg. (Er weiß noch immer nicht, warum er sich ausgerechnet an diesen Zwischenfall erinnert, und an Herrn Felsberg und an seinen Opel. Vielleicht ist das Ganze gar nicht wichtig, doch wenn es so unwichtig wäre, hätte er es längst vergessen müssen. Da sind andere Dinge, die ungleich wichtiger und prägender für ihn waren, an die er sich aber nicht einmal mehr ansatzweise erinnert. Max fragt sich, welche Teile der Vergangenheit denn überhaupt wichtig sind, und wie diesbezüglich die Entscheidungen gefällt werden. Doch vielleicht ist auch diese Frage gar nicht wichtig. Herr Felsberg ist trotzdem da. Wenn Max die Augen schließt, sieht er ihn, wie er vor seinem orangefarbenen Opel steht, damals vor dem Haus, in dem Max wohnte. Herr Felsberg streicht sich mit den Fingern den Schnurrbart zurecht, und einen Moment lang ist die Narbe über der Oberlippe deutlich zu sehen. Max fragt sich, woher sie wohl stammen mag, die Narbe, wie alt sie ist und was Herr Felsberg empfindet, wenn er daran denkt, wie sie entstanden ist. Dann öffnet Max die Augen wieder, und Herr Felsberg verschwindet.)

Ist es nicht immer wieder erstaunlich an was man sich aus der Kindheit erinnert und was nicht? Da fragt man sich nach welchen Kriterien das Gehirn auswählt, was wichtig oder unwichtig ist.
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Ohja, es lässt tatsächlich staunen und nachdenken… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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