Manchmal, wenn die Nachtluft eisig kalt und der Himmel wolkenlos ist, blickt Leo hinauf zu den Sternen und denkt an sein Raumschiff. Er kann es förmlich sehen, dieses plumpe Gebilde, dessen Umrisse an ein großes D erinnerten, das wehrlos auf dem Rücken lag. Leo hat längst akzeptiert, was ihm zugestoßen ist. Er hat die Entführung akzeptiert, die zähe und schleichende Kraft, mit der ihn seine Peiniger zu sich nahmen. Er hat die langen Jahre akzeptiert, die ihn die Entführung gekostet hat. Er hat seine eigene Ohnmacht akzeptiert, sein haltloses Treiben im endlosen Universum, gelähmt und träge. Er hat akzeptiert, dass ihm Kraft und Mut abhandengekommen waren. Er hat auch akzeptiert, dass keine höheren Mächte am Werk waren und es lediglich eine banale Tatsache war, dass dieses große plumpe D ihn entführt hatte. Er hat akzeptiert, dass es nicht um Schuld geht, nie um Schuld ging. Und obwohl Leo so vieles akzeptiert hat, ist da dennoch dieses stetige Hadern, wenn er in den klaren Nachthimmel blickt und an sein Raumschiff denkt. Das große D, es ist und bleibt ein Teil seines Lebens, ein Aspekt seines Ichs. Trotz dieser Unumstößlichkeit fragt er sich, ob er gewisse Entwicklungen hätte beeinflussen können. Vor der Entführung hatte er wenige, aber sehr gute und nahe Freunde, wie ihm schien. Nach der Entführung waren diese Gefüge der Freundschaft kaum mehr existent, waren zu unwirtlichen Ruinen geworden, die keinen Wiederaufbau mehr zuließen. Gerade diesbezüglich bekundet Leo Mühe, das Wort Schuld zu verbannen. Obwohl er weiß, dass es fehl am Platz wäre.
Die Entführung, sie raubte ihm Zeit, viel Zeit. Ein Polizist sagte ihm später, dass sich geraubte Zeit in aller Regel nicht wiederfinden ließe, man müsse akzeptieren, dass sie endgültig verschwunden und verschollen sei, und als der Polizist dies sagte, wurde Leo wütend, denn er war des Akzeptierens müde. Der Polizist meinte auch, dass es nicht auszuschließen sei, dass jenes Raumschiff zurückkehren könnte, und hierbei wurde Leo nicht wütend, denn die latente Angst vor einem Wiederauftauchen des Raumschiffes war ihm so vertraut, dass sie ihm nahezu natürlich schien. Er wusste und weiß, dass das große D durch die Schwerelosigkeit gleitet, irgendwo. Er wusste und weiß, dass seine Peiniger ihn erneut besuchen könnten. Dass er beim nächsten Mal besser vorbereitet wäre, lässt ihn zwar die Angst nicht vergessen. Doch es ist zumindest ein Trost.
Hin und wieder ertappt er sich dabei, wie er sich die Frage nach dem Warum stellt. Am Anfang dachte er, die Frage sei sinnlos, doch mittlerweile glaubt er, dass sie durchaus wichtig ist, obschon ihm bewusst ist, dass es keine abschließende Antwort geben kann. Er hält das Warum in den Händen, dreht und wendet es, betrachtet es von hinten und von vorne. Es fühlt sich unangenehm an, wie ein kantiges und grobes Objekt, seltsam kalt und schroff. Das Warum, es ist ein Rätsel, das sich nicht lösen lässt, doch die Auseinandersetzung damit schafft kleine helle Inseln der Klarheit, immer wieder.
Manchmal, wenn die Nachtluft eisig kalt und der Himmel wolkenlos ist, blickt Leo hinauf. Wenn er damals, in jenem großen plumpen D, in jenem Raumschiff, aus dem Fenster hinaus ins Endlose blickte, dann konnte er nichts erkennen, die Sterne blieben ihm verborgen, jeder Himmelskörper war unsichtbar. Jetzt kann er sie sehen, die Sterne. Und wenn sie an gewissen Tagen von einer Wolkendecke verdeckt werden, weiß er dennoch, dass sie da sind.
