Er weiß, dass man die Schrauben nicht allzu fest und heftig ins Holz drehen sollte, denn dann würden die Lackierung und wohl auch das Verbundmaterial beschädigt werden. Damit muss man rechnen, wenn man billige Möbel kauft, findet er, man kann zu diesem günstigen Preis keine erstklassige Qualität erwarten. Doch wenn man das Möbel vorsichtig und achtsam zusammenbaut, ist es durchaus brauchbar, es erfüllt seinen Zweck ohne Tadel. Manchmal denkt er, dass er selbst auch eines dieser Möbel ist. Beliebig und normal, aber zweckmäßig und nützlich. Womöglich sollte er einen schwedischen Namen tragen.
An manchen Tagen spürt er ein Knacken in seinem Kiefer. Er weiß nicht, woher es rührt und was dabei genau geschieht, aber jedes Mal hat er Angst, dass etwas an ihm defekt ist, dass eine seiner Funktionen eingeschränkt ist. Er bewegt dann seinen Kieferknochen einige Male auf und ab, dann nach links und nach rechts, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist.
Er mag Menschen, eigentlich. Er schaut ihnen gerne zu, wie sie ihre Körper und ihre Angelegenheiten durch die Zeit schieben, er findet sogar langweilige Menschen interessant. Was er nicht mag, sind Konfrontationen. Wenn sein Chef im Büro ihn kritisiert, wird er noch stiller und kleiner als üblich. Wenn sein Arzt ihn nach seinen Alkohol- und Nikotinkonsum befragt, rutscht er nervös auf dem Stuhl hin und her, obwohl er nicht raucht und nur wenig trinkt. Und wenn er an der Supermarktkasse nicht schnell genug seine Einkäufe in die Tüten zu räumen vermag und ihn die nachfolgenden Kunden mit ihren kritischen Blicken ansehen, beginnt er zu zittern und füllt die Waren so hastig und unsorgfältig in die Einkaufstüte, dass ein Joghurt aufplatzt.
Jedes Mal, wenn er ein neues Möbel kauft und es zusammenbaut, hält er sich penibel an die Montageanleitung. Er legt alle Schrauben, Utensilien und Werkzeuge säuberlich bereit, befolgt jeden Schritt, prüft lieber doppelt und dreifach, ob ein ein Seitenteil richtig liegt, bevor er es anschraubt. Er ist überzeugt, dass man korrekt, präzise und ordentlich sein sollte, im Kleinen wie im Großen. Wer seine Möbel schludrig zusammenbaut, ist auch im Leben unachtsam und sorglos, findet er.
Beim neuesten Möbel handelt es sich um eine hübsche Kommode mit drei breiten Schubladen. Wie gewohnt öffnet er die Kartonverpackung äußerst vorsichtig, breitet die Einzelteile auf dem Fußboden aus, legt die Schrauben, Dübel und Ösen zurecht und prüft, ob alle Teile wie angegeben vorhanden sind. Dann beginnt mit dem Zusammenbauen, routiniert und selbstbewusst. Er kommt gut voran, doch bei der zweiten Schublade bekundet er Mühe. Was er auch tut, die mittlere Schublade liegt zu tief, die Unterkante liegt unterhalb der Oberkante der untersten Schublade. Er montiert alles nochmals ab und baut nochmals frisch zusammen, doch das Problem bleibt bestehen. Zunächst schüttelt er lediglich verständnislos den Kopf, doch mit jedem erfolglosen Versuch, die Schublade einzupassen, kriecht die Frustration tiefer unter seine Haut. Er dreht Schrauben hinein, dreht Schrauben heraus, verschiebt Metallleisten und steht immer wieder entnervt auf, greift sich an den Kopf oder schüttelt seine geballten Fäuste in der Luft.
Irgendwann schleudert er den kleinen Inbusschlüssel gegen den Rohbau der Kommode, gleich darauf auch den Hammer. Er schlägt mit der flachen Hand auf die Oberseite des Möbels, tritt mit dem Fuß gegen die Seitenwand und schreit Wörter in den Raum, von denen er gar nicht wusste, dass sie sich in seinem Wortschatz befinden. Er nimmt den Hammer wieder zur Hand und beginnt, damit auf die lackierten Holzfurnierplatten einzuprügeln, er schlägt Dellen und Löcher hinein. Der Lack platzt auf, Holzsplitter lösen sich, und immer wieder trifft der Hammer das Möbel. Schließlich lässt er ihn zu Boden fallen, geht zum nahen Fenster und reißt beide Flügel auf. Er geht zurück zur Kommode und hebt sie hoch, sie ist viel leichter als erwartet. Dann wankt er zum Fenster und wirft das Möbel hinaus, begleitet von letzten Kraftausdrücken.
Als er das Krachen des Aufpralls hört, spürt er, wie sich in seinem Oberkörper etwas löst, ein warmes Gefühl der Entspannung fließt von seinem Bauch in seinen Brustkorb. Er sinkt in die Knie, setzt sich dann auf den Boden und stützt sich auf seine gestreckten Arme. Seine Hand berührt einen kleinen Gegenstand, den kleinen Inbusschlüssel, den er schon in dutzendfacher Ausführung besitzt. Er dreht ihn zwischen seinen Fingern, betrachtet die Kanten. Er hält den Inbusschlüssel an seine Wange, presst ihn gegen den Kiefer und wartet auf das Knacken. Doch das Knacken bleibt aus.
Später wird er ins Freie gehen und die Überreste der Kommode einsammeln. Er wird Staub und Splitter wegwischen und alle Spuren beseitigen. Er wird vielleicht ein neues Möbel kaufen gehen, wird es zusammenbauen. Doch zunächst bleibt er einfach sitzen. Er drückt den kleinen Inbusschlüssel an seine Wange. Und wartet, ob das Knacken doch noch kommt.

Ich werde in Zukunft Möbel nur noch zusammen bauen lassen, denn ich könnte keine Möbel über die Balkonbrüstung heben. Und ich will niemand erschlagen!
Gruß zu dir!
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Da bin ich froh, dass du auf deinen Rücken und auf die Passanten unter dem Balkon achtest!
Vielen Dank dir fürs Lesen, und herzliche Grüsse zurück…
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Die Menschheit rottet sich doch von alleine aus, da muss ich ja nicht noch mithelfen. 🙂
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Ach Mensch, Deine Helden haben es wirklich nicht leicht….
Liebe Grüße Ryka
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Ja, sind manchmal arme Hunde 😉
Liebe Grüsse zurück!
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Endlich ist dieser kleine Neurotiker mal so richtig explodiert…
was notwendig ist,
um zu überleben…
Fein beschrieben, lieber Schreibfreund!
Herzliche Mittagsgrüße vom Finbar
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Es wurde wohl höchste Zeit, jawohl!
Vielen Dank dir und herzliche Grüsse zurück, lieber Finbar…
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klasse geschrieben
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Vielen lieben Dank dir!
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