Es hatte immer wieder geschneit in diesem Winter, die Tage waren häufig grau und bitterkalt. Der Schnee lag wochenlang auf den Feldern und Wiesen. An manchen Tagen schmolzen einige Zentimeter weg, dann wieder fiel neuer Schnee und ließ die Schicht wieder anwachsen. Was unter der Schneedecke lag, blieb verborgen. Und es war kaum vorstellbar, dass diese riesigen Schneemengen dereinst wieder verschwinden würden.
Nina mag diesen Gedanken, dass die Dinge unter dem Schnee unentdeckt bleiben. Sie stellt sich vor, wie sie am letzten nebligen Herbsttag einen Brief geschrieben und ihn auf diese große Wiese hinter dem Haus gelegt hätte. Dann hätte der weiße Winter angefangen, der Schnee wäre unaufhörlich auf die Wiese und auf den Brief gefallen, hätte die Worte zugedeckt und ein Geheimnis aus ihnen gemacht. Mit der Zeit und unter dem Einfluss von wärmeren und kälteren Phasen wäre der Brief allmählich mit Feuchtigkeit durchdrungen worden, hätte sich zu zersetzen begonnen. Und wenn es so gekommen wäre, wie es unweigerlich hätte kommen müssen und der Schnee im Frühling aus der Welt gewichen wäre, würden vom Brief lediglich noch einige unkenntliche Fetzen übriggeblieben sein.
Während sie ihre Gedanken noch an den Brief klammert, sieht sich Nina mit der Möglichkeit konfrontiert, dass die geschriebenen Worte dem Schnee und dem Schmelzwasser würden standhalten können. Die Geheimnisse hätten sich nicht aufgelöst, sondern würden wieder zutage treten. Nur schon diese Befürchtung lässt Ninas Unterkiefer leicht erbeben, sie zittert und friert am ganzen Körper. Nein, der Schnee ist zu unsicher, sagt sie sich, selbst der kälteste Winter würde nicht genügen, um die Geheimnisse auszuradieren. Also stellt sich Nina vor, den Brief in der Erde zu vergraben.
Erneut schreibt sie auf das Papier, was niemand wissen soll. Immer wieder hält sie inne, lässt den Stift sinken und vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Jedes Wort tut weh, jeder Satz lässt gefrorene Bilder zurückkehren, mit jedem Buchstaben scheint sich der Stift tiefer in die Wunden zu graben. Als sie zu Ende geschrieben hat, liest Nina den Brief nochmals durch und spürt, wie die Erschütterungen sich pochend in ihr ausbreiten bis in den Hals.
Später stapft sie durch den Schnee, viel zu spärlich bekleidet, doch die Kälte macht ihr nichts aus. Etwa in der Mitte der schneebedeckten Wiese beginnt sie zu graben, mit nackten Händen. Die vereinzelten Eisschichten sind kaum zu durchdringen, aber Nina bleibt unbeirrt. Als sie das erste Grasbüschel freiliegt, hält sie kurz inne und atmet durch.
Natürlich weiß sie, dass der Boden gefroren ist. Doch dass er so hart und grob sein würde, überrascht sie dennoch. Sie versucht, mit ihren Fingern die Erde abzutragen, doch es hat keinen Zweck, der Boden ist zu starr und ihre Glieder sind zu klamm. Sie schreit und zetert, sie brüllt in die kalte Luft, und dann gibt sie auf. Mit schwerem Atem kauert sie vor dem Loch im Schnee und starrt auf den Boden, ohne etwas sehen zu können.
Irgendwann geht sie zum Haus zurück. Den Brief hat sie in das Loch gelegt und es zugedeckt, zumindest rudimentär. Es spielt keine Rolle, findet sie. Früher oder später tauchen die Dinge sowieso wieder auf. Wenn nicht auf dem Brief, dann hinter einer Ecke auf den winterlichen Irrwegen in ihrem Kopf.

Liebe Nina, ich möchte Dir beim Vergraben helfen und später beim Ausbuddeln, denn manche Geheimnisse sollte man nochmal lesen, mit einer anderen Sicht und anderen Gedanken, die die Schwere lehren, sich endlich für immer zu entfernen, um dem Hellen, dem Lichten mit den vielen schönen Gesichtern Raum zu geben
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Liebe Bruni, ich danke dir von Herzen für deine tief empfundenen Worte! Sie berühen mich sehr, und ich will es, so oder so, gerne versuchen, dem Hellen und Lichten mehr Raum zu gestatten; man kann dann auch mehr sehen.
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*schmunzel*, Du fandest nicht, daß der Gedakengang zu abstrus war?
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Nö, ich mag ihn, den Gedankengang.
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Man kann die Gedanken- und Erinnerungstüren noch so verschliessen, irgendwann öffnen sie sich eh wieder. Nur wann, das ist die Frage.
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Ja, die Erinnerungen führen wohl oftmals ein Eigenleben. Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte.
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stark!
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Danke schön!
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klasse geschrieben
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Vielen lieben Dank!
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