Sie hätte ein Taxi nehmen sollen. Eva hatte gedacht, dass ihr die frische Luft gut tun würde. Sie hatte gehofft, dass die Wirkung des Alkohols auf dem Nachhauseweg nachlassen und sie sich nicht mehr ganz so betrunken und elend fühlen würde. Diese Hoffnung hat sich zwar erfüllt. Trotzdem war es ein Fehler.
Zunächst war Eva das Auto gar nicht aufgefallen. Während sie der langen Landstraße entlangging, waren immer wieder Autos an ihr vorübergefahren. Die meisten kamen von hinten. Ihre Scheinwerfer beleuchteten den Weg vor ihr, und während sie schnell näher kamen, wurde der Weg heller, ihr Schatten immer kürzer, der Klang des Motors immer lauter. Der Moment, in welchem das Auto jeweils auf ihrer Höhe war, wirkte wie ein Knall, eine Art Aufprall. Dann nahm die Intensität rasch ab, das Licht verschwand in der Ferne, das Geräusch ebbte ab und Eva war wieder allein auf der Landstraße. Dieses Mal sind die Dinge anders. Dieses Mal bleibt das Scheinwerferlicht konstant, ihr Schatten ist relativ lang und diffus, der Motor ist kaum zu hören, weil das Auto so langsam fährt. Sie wartet darauf, dass das Auto sie überholt, doch das Auto überholt sie nicht. Es bleibt einfach hinter ihr und folgt ihr im Schritttempo.
Sie denkt an die Erzählung ihrer Mutter, die einst, als sie noch jung war, von einem Mann mit dem Auto mitgenommen worden war. Irgendwann hatte der Mann den Wagen bei einem Waldstück angehalten, den Motor abgestellt und angefangen, sie merkwürdig anzusehen. Dann hatte er ihr mit einer Hand an die Brüste gefasst und zugleich sich selbst mit der anderen Hand in den Schritt gegriffen. Sie hatte in panischer Angst die Tür aufgerissen, war aus dem Wagen gestürzt und weggerannt. Es war zum Glück eine beinahe wolkenlose Nacht, der Mond schien hell vom Himmel. Ohne das Mondlicht hätte ihre Mutter in jener Nacht wohl nicht heil nach Hause gefunden.
Immer wieder erzählte ihre Mutter diese Geschichte, und Eva mochte sie gar nicht mehr hören. Jetzt ist sie einfach da, die Geschichte, und Eva weiß nur zu gut, weshalb sie in ihren Gedanken aufgetaucht ist.
Noch immer fährt das Auto hinter ihr. Eva blickt nach vorne, sucht nach Anhaltspunkten, um zu wissen, an welcher Stelle der Landstraße sie sich befindet und ob das Dorf, in welchem sie wohnt, bald vor ihr auftaucht, doch sie sieht nichts, das ihr bekannt vorkommt, was bedeutet, dass sie noch weit entfernt ist von ihrem Ziel. Sie geht schneller, doch das Auto beschleunigt ebenfalls, bleibt dicht hinter ihr.
Als Eva etwa zehn Jahre alt war, wurden in ihrem Heimatstädtchen zwei dreizehnjährige Mädchen entführt. Eine davon war die Schwester von Evas Klassenkameradin. Tagelang suchte man nach ihnen, die Zeitungen berichteten unaufhörlich, jeder sprach darüber. Als man dann ihre Leichen in einem Waldstück fand, schien ihr gesamtes Umfeld unter Schock zu stehen, es war ungewohnt still, wenn man unter Leuten war. Eva konnte die Ereignisse damals wohl nicht vollumfänglich einordnen, doch sie brannten sich ein in ihre eigene Geschichte, gerade so, als wäre ihr selbst etwas zugestoßen.
Sie dreht den Kopf ein wenig zur Seite, blickt aus den Augenwinkeln nach hinten. Sie will sich nicht umdrehen, will so tun, als wäre das Auto lediglich ein unwesentlicher Störfaktor. Wenn sie ihre Angst ignoriert, verschwindet sie vielleicht. Wenn sie das Auto ignoriert, verschwindet vielleicht auch jenes. Doch das Auto verschwindet nicht, folgt ihr unbeirrt, im Schritttempo.
Während ihrer Kindheit war Raimundo ihr bester Freund, sie verbrachten nahezu jede freie Minute zusammen. Raimundo stammte aus Chile, war schüchtern und ziemlich schweigsam. In der Schule war er nicht sonderlich beliebt, doch weil er mit deutlichem Abstand der größte Junge in der Klasse war, ließen ihn die Halbstarken in Ruhe. Eva mochte ihn mehr als alle anderen, bei ihm fühlte sie sich wohl und sicher. Wie aufreibend und unstet die Welt auch war, an seiner Seite kam sie zur Ruhe. Sie hat keine Ahnung, wo Raimundo jetzt gerade ist. Auch er fiel der Zeit zum Opfer.
Eva holt ihr Smartphone aus der Tasche, doch sie sieht nur noch die rot blinkende Batterieanzeige, dann wird der Bildschirm wieder schwarz und lässt sich nicht mehr einschalten. Sie kann niemanden anrufen, niemandem eine Nachricht schreiben, sie weiß nicht einmal, wie spät es ist. Ihre Knie knicken kurz ein, doch sie kann sich wieder fangen. Mit panischen Bewegungen winkt sie das Auto vorbei, doch nichts geschieht, er fährt weiterhin hinter ihr.
Vor einigen Jahren hatte sie versucht, sich umzubringen. Es war ein halbherziges Unterfangen, der Schnitt am Handgelenk reichte kaum aus, um ein wenig Blut aus ihrem Körper zu treiben, außerdem rief sie nach fünf Minuten eine Freundin an, die sie schließlich ins Krankenhaus brachte. Sie war keine Selbstmörderin, sie mochte ihr Dasein eigentlich ganz gern. Einmal wäre sie beinahe von einem Bus überfahren worden, im letzten Moment konnte sie ihr damaliger Freund zurückreißen. Und einmal diagnostizierte man bei ihr eine Dysplasie am Gebärmutterhals, was ihr zunächst große Angst machte, dann aber glimpflich verlief. Jedes Mal, wenn sie ihr Leben in Gefahr sah, war sie froh und dankbar, dass sie es nicht verlor, dass sie es sich bewahren konnte. Sie hatte ja nur eines, und noch war sie nicht bereit, es der Zeit zu überlassen.
Als sie die Angst nicht mehr im Zaum halten kann, beginnt Eva zu rennen, doch das Auto beschleunigt ebenfalls, bleibt dicht hinter ihr, ohne zu überholen. Als sie ein Waldstück erreicht, überlegt sie, ob sie sich zwischen den Bäumen verstecken soll, doch die Dunkelheit des Waldes macht ihr noch mehr Angst als das Auto hinter ihr. Sie bleibt auf dem Asphalt, läuft weiter, so schnell wie sie kann, während der Wald immer dichter zu werden scheint, die Straße immer schmaler, der Raum immer enger. Eva rennt schneller, fällt beinahe hin, stolpert weiter, rennt noch schneller. Irgendwann verspürt sie ein Brennen in den Oberschenkeln, ihre Brust beginnt zu schmerzen. Nachdem die letzten Kräfte aufgebraucht scheinen, verfällt sie wieder in ein erschöpftes Gehen, benommen und schwerfällig. Auch das Auto verlangsamt seine Geschwindigkeit, fährt weiterhin im gleichbleibenden Abstand hinter ihr her, im Schritttempo.
Sie blickt hinauf zum Himmel. Zahlreiche Sterne sind zu sehen, und sie hofft auf eine Sternschnuppe. Doch der Himmel bleibt starr, nichts bewegt sich. Ihr Vater hat ihr einmal davon erzählt, dass ein Stern schon längst erloschen sein kann, hier auf der Erde aber trotzdem noch zu sehen ist. Sie verstand es nicht ganz, fand es aber dennoch faszinierend. Ihr Vater fehlt ihr, noch mehr als sonst. Ohne sich darüber Gedanken gemacht zu haben, bleibt Eva stehen. Das Auto hält ebenfalls an. Ganz langsam dreht sie sich um, Zentimeter um Zentimeter. Schließlich stehen sie sich gegenüber, Eva und das Auto, die Scheinwerfer blenden und brennen sich in ihre Netzhaut. Sie breitet die Arme aus, mit den Handflächen gegen oben, und wartet. Die Zeit dehnt sich aus, ganz zäh und träge. Dann endlich erlöschen die Scheinwerfer, der Motor stirbt ab, es ist vollkommen dunkel im Wald. Eva schließt die Augen, damit sie sich an die Dunkelheit gewöhnen können. Dann öffnet sie die Augen wieder und blickt nach oben. Ohne das künstliche Licht sieht man die Sterne besser. Immer mehr von ihnen tauchen auf. Tausende, Millionen. Unendlich viele. Der Himmel ist wunderschön. Trotzdem hätte sie ein Taxi nehmen sollen.

Du hast den Spannungsbogen weit gespannt und am Ende ergibt sie sich der Nacht …
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Vielen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte… Herzliche Grüsse!
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Ich kenne den Film -hoch spannend.👌✨
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Hat mich an den Film Duell von Steven Spielberg erinnert…
Kennst du ihn?
Liebe Grüße zur Nacht vom Finbar
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Oh ja, ich kenne ihn! Ein wunderbarer/atemloser Film! Herzlichen Dank dir fürs Lesen und liebe Grüsse zurück!
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Was dort „rasant“ Spannung erzeugt, lieber Disputnik, das erzeugt hier bei dir die „Langsamkeit der Bewegung“, bis zum Stillstand.
Und trotzdem, irgendwie ähnlich…
Dankeschön fürs „offene Ende“!
In der derzeitigen Welt wäre das ab und zu schöner, als diese brutalen finalen Fakten, die nix offen lassen: Amoklauf Schule, Geballere bis zum Tod in Syrien und so weiter und so fort, unerträglich derzeit, finde ich!
Liebe Abendgrüße
vom Finbar
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Ja, unerträglich beinahe, und doch müssen wir’s wohl ertragen und versuchen, zumindest im Kleinen und Nahen eine andere, bessere Wirklichkeit zu schaffen…
Vielen lieben Dank dir für deine Worte, lieber Finbar, und herzliche Abendgrüsse zurück…
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So ist es, lieber Disputnik, etwas anderes scheint auch kaum möglich…
Liebe Grüße zur Nacht vom Finbar
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Wer auch immer – jemand leuchtet Eva heim. Ein potenzieller Vergewaltiger würde kaum ewig hinter ihr her fahren – es sei denn natürlich, es handelt sich um einen totalen Psychoten. Davon gibt es zum Glück nicht unendlich viele, und es wäre schon verdammtes Pech, einem davon gerade auf einer nächtlichen Landstraße zu begegnen.
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Wer auch immer es ist (oder nicht ist, und ja, hoffentlich keiner der Psychoten), der Eva da begleitet; herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken!
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Jetzt schalte ich den Klugscheißermodus an – außerhalb von geschlossenen Ortschaften sollte man auf oder muss man auf der linken Seite gehen, da hätte ihr das nicht passieren können. Da wären ihr alle Autos entgegengekommen und wären vielleicht schnell genug an ihr vorbeigefahren.
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Das ist gut, dass du das Ende offen lässt, da kann ich wenigstens positiv zu Ende denken. Es war faszinierend zu lesen
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Schön, das freut mich sehr… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und Weiterdenken und für deine Worte…
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… aber dann hättest du deine Geschichte nicht schreiben können.
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Und überhaupt war Eva ja ein wenig betrunken, da kann man schon mal grundlegende Verkehrsregeln vernachlässigen 😉
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Gut das du das Ende offen gelassen hast.
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Ich mag offene Enden in der Regel lieber… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Ja das habe ich schon des öfteren bei dir gemerkt.
Es lässt immer viel Raum für die eigenen Gedanken.
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Umso schöner, wenn man sich in diesem Raum ein wenig austoben mag… 😉
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Da hast du recht.
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Alternatives Ende 1:Es ist der Förster und Eva betrat den Wald trotz Betretungsverbot aufgrund Sturmschäden. Das kostet Kohle, fünfzig Euronen, Weil es sich dabei um eine Ordnungswidrigkeit handelt. Eva muss zahlen.
Alternatives Ende 2: Es ist die Polizei, die sich fragt, wer nach der Sperrstunde draußen noch unterwegs ist um diese Zeit. Lebensmüde?
Alternatives Ende drei: Es ist die Organmafia. Sie wollen Evas Leber klauen.
Alternatives Ende drei:
Es ist Evas Nachbar. Er will ihr mitteilen, dass sie in Hausschuhen unterwegs ist.
Er fragt sich, wie sie in Filzpuschen so schnell rennen kann.
Alternatives Ende Vier:
Es sind Außerirdische, die Eva entführen wollen, weil sie denken, dass es sich um die berühmte Eva aus dem Paradies handelt.
Es ist ihr Sohn, Der seine sich selbst verwirklichen der Mutter ziemlich bescheuert findet und sie einsammeln will, damit sie ihm endlich die schmutzigen Socken wäscht.
Ich weiß.
Das ist alles pottenlangweilig und nullpoetisch oder so…
Fast langweilig.
Aber Deine Geschichte, die …
…kennen die Frauen.
👌
Liebe Grüße
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Oh, jedes deiner alternativen Enden hätte eine eigene Geschichte verdient!
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs vielschichtige Weiterdenken!
Herzliche Grüsse…
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Keine meiner Geschichten beschriebe das Gefühl einer Frau, die, allein unterwegs im Dunkeln von Unbekannten verfolgt wird. Jedes meiner Enden klammert bewusst aus, was zu oft noch geschieht.
Ich habe meiner Tochter leider auch sämtliche Gruselgeschichten vom schwarzen Mann erzählen müssen, damit sie weiß womit sie es zu tun haben könnte Das ist in diesem Fall immer besser ist vom worst case auszugehen. Empirischer Wert…
Am liebsten hätte ich es gehabt, wenn sie ihren schwarzen Gürtel in Kung-Fu gemacht hätte.
Dennoch- viel mehr geschieht am hellichten Tag und davon sind weder Männer noch Frauen noch Mädchen noch Jungs ausgenommen.
Hilflosigkeit, Vertrauen oder Angst anderen Menschen offen zu zeigen, ist und bleibt leider immer öfter brandgefährlich.
Liebe Wochenendgrüße✨
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Ich denke auch, dass es wichtig ist, den Kindern die Geschichten vom bösen Mann nicht zu verheimlichen, sondern sie mit den realen Gefahren vertraut zu machen. Und ja, leider sind manche Menschen die gefährlichsten Monster, die es gibt…
Vielen Dank dir für deine Worte und herzliche Wochenendgrüsse zurück…
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So mache ich das auch. Ich gehe (noch ) nicht ins Detail, aber unsere Tochter würde niemals mit jemand Fremdes mitgehen. Da bin ich sehr dankbar für. Noch reicht es ihr, zu sagen, dass ihr jemand sehr weh tun würde und sie vielleicht für immer einsperren würde. Ach, ich kriege schon wieder Gänsehaut…
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Ins Detail zu gehen, ist wohl gar nicht notwendig. Zu warnen aber wohl schon, leider… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Oh wie GRUSELIG!!!!!
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HA! Trotzdem vielen Dank fürs Lesen!
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