Im Supermarkt ist jeder Salat in der Gemüseabteilung verfault, jeder einzelne Salatkopf grinst mit braunen Blättern aus seiner Kunststoffverpackung. Sie hebt einen Salatkopf hoch, wendet ihn in ihren zitternden Händen und knallt ihn wieder zurück ins Regal, greift sich den nächsten Salatkopf und schleudert auch diesen wieder zurück. Alles ist verfault! brüllt sie in die tauben Winkel ihres Kopfes. Die Tomaten hingegen sind noch grün, die Zucchini sehen erbärmlich aus. Sie stöhnt laut auf, wirft die Hände in die dicke Luft und eilt zum Ausgang. An der Kasse herrscht sie den schüchternen Verkäufer an, dass sie dann ja wohl nichts zu fressen habe. Der junge Mann blickt ihr entgeistert hinterher, während sie aus dem Supermarkt stürmt.
Draußen kommt sie zu einem Fußgängerübergang, will über die Straße gehen, doch ein großer Mercedes-Benz mit einem alten Mann am Steuer rollt langsam, aber ungebremst vorbei und ihr beinahe über den Fuß. Sie schlägt mit der Faust auf den Kofferraum des Wagens, schreit Hey, Arschloch! und wirft erneut die Hände in die Luft. Der alte Mann steuert seinen Mercedes-Benz weiter, und sie schickt ihm einen gereckten Mittelfinger hinterher.
Zu Hause steht sie vor dem Spiegel und macht Gesichter. Sie setzt ein Lächeln auf, legt die Stirn in Falten, kneift die Augen zusammen, reißt sie wieder auf, zieht die Nase kraus, streckt sich die Zunge heraus, zeigt die Zähne, beißt sich auf die Unterlippe. Dann öffnet sie vehement die Tür des Spiegelschrankes und starrt regungslos auf Medikamentenschachteln und Salben und Lotionen und Schminkutensilien und Kosmetikprodukte und Parfumflaschen. Mit einem wütenden Schnauben knallt sie die Tür des Spiegelschrankes wieder zu und schüttet sich kaltes Wasser ins Gesicht.
Später geht sie ins Hallenbad, schwimmt einige Längen. Dann lehnt sie sich mit dem Rücken an den Beckenrand und starrt auf Stellen, an denen gerade niemand das Wasser stört. Schließlich löst sie sich vom Rand und gleitet langsam durchs Wasser, lässt sich treiben, das Gesicht unter der Wasseroberfläche. Sie schwebt, sie ist ungreifbare Materie im flüssigen Raum. Irgendwann zieht jemand an ihrem Arm, will sie wohl vor dem Ertrinken bewahren, doch sie schiebt die fremde Hand mit aller Kraft weg, ohne sich dafür zu interessieren, wem sie gehört. Sie taucht auf, holt noch einmal Luft und lässt sich erneut in die Tiefe treiben. Sie umarmt träge Flüsse und spürt die Strömung, sie taucht in warme Seen ein und windet sich durch Wasserpflanzen, und dann, endlich, erreicht sie das Meer, die salzige Weite, eine schweigende Unendlichkeit. Ein Schwarm kleiner blauer Fische kreuzt ihren Weg, ein mächtiger Rochen segelt über ihr vorüber. Sie taucht weiter hinab, immer weiter, das Wasser wird kälter, das Licht schwindet. Und immer mehr wird sie erfasst von dieser vollkommenen Ruhe und Stille. Jeder Klang ist entschwunden. Dann, auf dem Grund des Meeres, bleibt sie liegen, endlich angekommen, endlich ganz bei sich. Sie breitet die Arme aus, bewegt die Finger im Wasser. Sie spürt das Drängen zur Wasseroberfläche, alles in ihr zieht und zerrt, doch sie harrt aus. Nur noch einige Sekunden, einige Sekunden länger. Nur noch einen kurzen Augenblick. Nur noch einen Moment.

Depression ist eine schwerwiegende Krankheit,
ihre Formen sind mannigfaltig…
das mit dem Mercedes kenne ich selbst nur zu gut,
es gab Zeiten, da erging es mir wie deiner Heldin…
Das Meer ist stets ein wohlwollender Freund,
egal, wie es einem gerade geht…
Liebe Frühlingsgrüße
vom Finbar
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Ohja, schwerwiegend, schwer, tatsächlich…
Ich wagte es nie, auf Mercedeskofferräume oder dergleichen einzuschlagen; fehlgeleiteter Respekt vor leblosen Dingen oder dergleichen, keine Ahnung…
Ja, das Meer, es kann vieles schlucken, was man selbst nicht mehr zu schlucken vermag…
Vielen lieben Dank für deine feinen Worte, lieber Finbar, und herzliche Frühlingsgrüsse zurück!
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In der Tiefe auf dem Meeresgrund wohnt eine geruchlose und Taube Stille wie in einem Mutterleib. Die Leere schwebt dort unten und sie zieht ans Licht in Luftblasen. Es kann geschehen, dass der Wunsch nach einer tauben geruchlosen Stille aufgrund einer Reizüberflutung der wie ein Perpetuum Mobile des Universums Kreißenden und sterbenden Welt so übermächtig wird, dass er den Schmerz des Überlebenwollens überlagert. Das ist der worst case einer falsch verstandenen Leere. Denn der Meeresgrund und seine Stille ruhen in jedem und jeder und die Leere ist ein Ausruhen zwischen diesen mehrdimensionalen Wanderungen. Danke für die Pingüine, die sind toll!!!✨
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Manchmal braucht man vielleicht ein Refugium, ob am Grund des Meeres oder auf dem Gipfel eines Berges; wichtig ist, dass man sich dabei nicht verliert, sondern findet, irgendwie. Und ja, der Meeresgrund ruht in jedem und jeder… Danke dir fürs Lesen und für deine feinen Worte!
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