Irgendwann fragte die Therapeutin, ob er gerne Musik höre. Pino antwortete, dass er sich nie viel aus Musik gemacht habe. Musik sei für ihn ein wenig wie Straßenverkehr. Nebengeräusch. Die Therapeutin begann dann zu schwärmen, von Tom Waits, vom Penguin Cafe Orchestra, von Nina Simone. Pino kannte diese Namen nicht. Noch nicht.
Eigentlich wusste er, dass etwas nicht stimmte, doch es war ihm nicht bewusst, und das ist ein großer Unterschied, da liegt viel dazwischen, unter anderem der schmerzende Faustschlag der Erkenntnis. Sie kam, als Pinos kleine Tochter ihn fragte, ob er krank sei. Du bist immer so traurig, Papa, und müde, und manchmal auch böse. Pino schluckte irgendetwas hinunter und versuchte, seiner Tochter die Wange zu streicheln. Am nächsten Tag rief er seinen Arzt an.
Pino war aus dem Takt geraten. Ohne Takt wird man taktlos. Er wusste nicht, wann oder warum er sich verloren hatte. Er wusste wohl nicht einmal, wer die Person war, die er da verloren hatte.
Nach der ersten Viertelstunde in der Klinik wollte Pino am liebsten wieder gehen. Das war nicht sein Platz, hier zwischen diesen fremden Menschen an diesem fremden Ort. Allerdings war jeder andere Ort nicht weniger fremd, das wusste Pino, und wenn er jetzt gehen würde, wäre wohl bald alles verloren; seine Familie, seine Freunde, seine kleine Firma, sein Leben. Also blieb Pino. Und er blieb ein Vierteljahr.
Bis er wahrhaftig angekommen war, dauerte es einige Tage. Dann gewöhnte er sich an den Rhythmus in der Klinik. Er lernte die Menschen kennen, und einer dieser Menschen, die er kennenlernte, war er selbst, obschon es bei ihm selbst weitaus schwieriger war, einen Zugang zu finden, als bei den anderen Patienten.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal geweint hatte. Als es dann in der Klinik erstmals geschah, war er zugleich schockiert und überwältigt. Dass er weinen durfte, schien ihm zuvor suspekt. Nun war es ihm ein Bedürfnis geworden.
Später würde er in wenigen Minuten erzählen können, was er in der Therapie lernen musste und durfte, was er erkennen und entdecken konnte. Er würde von Geborgenheit reden, von Nähe und Offenheit, vom Umarmen und Streicheln, vom Gefühl, angenommen zu werden. Er würde von Identität reden, von den Wunden seiner Kindheit und davon, was ihm gefehlt hatte, ohne dass er es vermissen durfte. Was rückblickend in eine Viertelstunde passte, dauerte zu seiner Zeit in der Klinik scheinbar unerträglich lang. Aber Pino ertrug die träge Zeit. Und er spürte einen Takt, er hörte eine Melodie. Die Dinge waren in Bewegung. Er war in Bewegung.
Dass seine Eltern sich getrennt hatten, als Pino noch ein kleines Kind war, wusste er natürlich. Er wusste, wie hart seine Mutter arbeiten musste. Er wusste, dass da kein Vater war und auch niemand, der diese Rolle übernahm. Er wusste, dass Gefühle häufig nicht von Belang waren, dass Liebe einer von vielen sehr abstrakten Begriffen war. Er wusste das alles. Aber ihm war nicht bewusst, dass es gerade auch diese Dinge waren, die ihn aus dem Takt gebracht hatten.
Nach dem Vierteljahr in der Klinik suchte er seinen Vater und fand ihn in Italien, besuchte ihn dort. Sie sprachen miteinander, Pino und dieser alte Mann, der zugleich nah und fern war. Es gab kein Aufholen, kein Ausmerzen von Leerstellen. Aber es war schön, es war gut.
Man ist wohl stets das Resultat seiner zurückliegenden Zeit. Pino weiß, dass er die Vergangenheit nicht ändern kann, es sind keine nachträglichen Korrekturen möglich. Was er hingegen korrigieren kann, ist sein Blick darauf und das, was er damit macht. Schließlich ist der Geist kein automatisches Gerät.
Manchmal hört er sich das Stück Perpetuum Mobile vom Penguin Cafe Orchestra an und spürt, wie sich in seinem Gesicht ein Lächeln bildet. Die Haut ist noch ein wenig steif und starr an gewissen Stellen, sie spannt sich. Aber Pino übt. Jeden Tag.

Penguin Cafe Orchestra – Perpetuum Mobile
Eine Geschichte, die sich tief in mein Inneres gelesen hat. Ich habe Gemeinsamkeiten entdeckt.
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Ich danke dir sehr herzlich fürs Lesen und Reinlassen!
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