Er ist noch ein Kind, als eines Tages ein Versicherungsvertreter zur Familie nach Hause kommt und sich mit seinen Eltern unterhält. Der Versicherungsvertreter hat dunkles Haar und ist freundlich und hat eine Ledermappe dabei, und in dieser Ledermappe befindet sich neben einem Notizblock und irgendwelchen Papieren auch ein Maßstab. Es ist kein normaler Maßstab, denn neben dem Logo der Versicherungsgesellschaft befindet sich ein kleiner Taschenrechner. Ein richtiger Taschenrechner, integriert in den Maßstab! Er ist hellauf begeistert. Jeder kleine Junge wäre hellauf begeistert. Dem Versicherungsvertreter entgeht diese Begeisterung nicht, er lächelt wissend. Als er sich verabschiedet, beugt er sich zum kleinen Jungen hinunter. Er blickt ihm in die Augen und verspricht, ihm beim nächsten Mal einen solchen Maßstab mitzubringen. Versprochen! Der kleine Junge kann kaum sprechen, weil sein Herz plötzlich nicht mehr in der Brust pocht, sondern irgendwo im Hals steckt.
Danach fragt er immer wieder, wann der Mann von der Versicherung endlich wieder zu Besuch komme. Die Eltern aber, sie mögen keine verbindliche Antwort geben; vielleicht wissen sie es tatsächlich nicht, oder sie wollen es ihm nicht erzählen. Zu Beginn fragt er regelmäßig, voller Vorfreude und Ungeduld. Mit der Zeit erkundigt er sich aber immer seltener nach dem Mann von der Versicherung, denkt nicht mehr so häufig an den Maßstab mit dem integrierten Taschenrechner, und irgendwann hört er auf, danach zu fragen. Der Maßstab jedoch, er bleibt in seinem Kopf.
Der Glaube daran, noch einen solchen Maßstab zu erhalten, er wird von der Zeit fortgespült, wie so viele Hoffnungen und Illusionen. Und natürlich gibt es kaum etwas Unwichtigeres als einen Maßstab mit integriertem Taschenrechner. Trotzdem fühlt er sich betrogen, empfindet eine gewisse Schmach. Es ist nicht schlimm, es tut nicht weh. Dennoch hängt der Nachhall der Enttäuschung noch im zeitlosen Raum, irgendwo in seinem inneren Kinderzimmer.

Nicht eingehaltene Versprechen können sehr verletzen , auch wenn sie *NUR* Versprechungen waren, nicht nur einem Kind gegenüber, lieber Disputnik.
Die Freude wird zukünftig vorsichtiger… Sie beginnt sich zurückzuhalten…, erinnert sie sich doch stets an die Enttäuschung von damals.
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Ohja, liebe Bruni, auch wenn ein Maßstab wohl noch keine allzu tiefen Wunden erzeugen mag, können andere Enttäuschungen – in der Kindheit und auch später – tief im Innern ihre Spuren hinterlassen…
Lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse…
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Genau so ist es auch, lieber Disputnik!
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Ja! Genau! So! Ich erinnere mich daran, dass mir bei unserem Umzug ins neue Haus – ich war 7 – die Nachbarin versprochen hat, mir einen Ableger einer bestimmten Blume („Tränendes Herz“) auf den Balkon zu stellen, nur für mich. Hab ich nie bekommen. Letzes Jahr war meine Tochter 7 und total begeistert von dieser Pflanze. Ich habe eine im Baumarkt gekauft und hoffe, dass sie den Winter gut überstanden hat und uns mit ihren herzförmigen Blüten noch viele Jahre erfreut.
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Dann hoff ich, dass das Tränende Herz möglichst lange Blüten trägt! Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Liebe Grüsse
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