Er kennt seine Nachbarn, und die meisten unter ihnen findet er in Ordnung; gute Leute, anständige Leute, kein Gesindel. Trotzdem hat er sein Grundstück mit alten Gitterstangen und Steinmauern eingezäunt. Auf diesem sicheren und geschützten Grundstück steht sein sicheres und geschütztes Haus, und in seinem sicheren und geschützten Haus hockt er, sicher und geschützt.
Häufig schaut er auf seinen Computerbildschirm und durch diesen hindurch in die Welt. Was er da sehen muss, lässt ihn schaudern und zittern, dann zetern und fluchen. Er liest von Selbstmordattentätern und Steuererhöhungen und Flüchtlingsströmen und schwulen Vätern und Arbeitslosigkeit und Religionskriegen und Feminismus und Drohnen und Drogendealern und Killerviren und Überwachungsstaat und Klimakatastrophen, und während er fassungslos liest, werden die große Ader an seiner Stirn und die große Ader an seinem Hals zu dicken Wulsten, da sind bösartige Würmer unter der Haut, pochend und pulsierend.
Er versteht vieles nicht, was er liest, aber man muss nicht alles verstehen, um Schuldige benennen zu können, findet er. Das sei doch offensichtlich, da gebe es keine Zweifel, keine Schattierungen, kein Abwägen. Ich sehe doch die Geschwüre, ruft er. Er ist keineswegs medizinisch kompetent, aber er spricht gern in medizinischen Ausdrücken, erzählt von Krebs und Seuchen, von Epidemien und Siechtum, und natürlich kennt er die richtige Medizin, um den Bedrohungen und Krankheiten dieser Welt und dieser Zeit wirksam zu begegnen.
Mit harter Hand! Konsequent! Raus mit dem Gift! Nicht mehr diskutieren! Es wurde schon viel zu lange diskutiert, und es hat nichts genützt! Verdammte Gutmenschen! Wir müssen uns wehren! Er japst und jammert, er brummelt und brüllt, vor allem aber schreibt er. Man könne ja nicht viel tun, so als kleiner Mann, aber man könne immerhin seine Meinung sagen, findet er. Also nutzt er jede sich bietende Gelegenheit, um seine Meinung oder zumindest irgendeine Meinung kundzutun, schreibt in Kommentarspalten und auf Facebook, und weil es viele wie ihn gibt, fühlt er sich schnell bestätigt und legitimiert, noch lauter und lärmiger zu schreiben.
Ich sehe doch die Geschwüre, ruft er in die Welt. Dann wird er wieder still und hockt weiter in seinem Zimmer in seinem Haus auf seinem Grundstück inmitten seiner Nachbarn; gute Leute, anständige Leute, kein Gesindel, keine Geschwüre.

Oh ja, aus dem übergeschützten eigenen Heim heraus die Wut dröhnen lassen,
gegen alles wettern, was in seinen Augen und denen vieler anderer falsch läuft, die vielen hassen , die er nur aus seinem geschützten Bereich her *kennt*, aber alles besser wissen und es können, während er sich in der Anonymität sonnt…
Du hast es drastisch gut beschrieben, lieber Disputnik, auf Deine gekonnte Art
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Ja, aus der anonymen Festung heraus lässt es sich gut wettern…
Vielen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte…
Herzliche Grüsse!
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Genau so stelle ich mir vor, entstehen die entsetzlichen Gedanken in den Köpfen der Menschen, die sich gegenseitig anstecken, vom richtigen Leben kaum eine Ahnung haben, da sie sich ja abschotten, aber immer alles besser wissen wollen.
Danke für diesen eindringlichen Text, mitten aus dem Leben heraus.
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Ich danke dir ganz herzlich, fürs Lesen und für deine Worte und fürs Nichtansteckenlassen….
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Toll ist er, der Text. Wunderbar zusammengefasst. Das schlimme ist, die Gefahr vor solcher Art Menschen wächst langsam ins unermessliche und scheint stetig Gift in des nächsten Kopfes zu pflanzen.
Die Welle. Das Blaue Augen – Braune Augen Experiment bestätigt sich tag täglich.
Falls du es nicht kennst, es ist sehr sehr lohnenswert.
Aber, es gibt zum Glück eine große Gegenwehr und so viele Menschen, die resistent gegen diese Art von frustrierten manischen Gefahren sind. …
Liebe Grüße 🙂
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Ja, manchmal fragt man sich, ob es tatsächlich immer mehr derartige Leute gibt oder ob sie einfach immer lauter und lärmiger werden…
Vielen Dank dir fürs Lesen, für deine Worte und fürs Resistentbleiben…
Liebe Grüsse zurück…
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Kaum zu ertragen, dein heutiger Text, lieber Schreibfreund …
Aber natürlich wieder eindrucksvoll, eindringlich dicht vorgetragen…
Herzliche Herbstgrüße vom Finbar
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Das Unerträgliche ertragen…
Vielen Dank dir, lieber Finbar, fürs Lesen und für deine Worte. Und herzliche Herbstregengrüsse zurück…
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