Mitunter fragt jemand, ob sie Kinder habe, einen Mann, eine Familie. Manche erkundigen sich nach ihrem Namen. Sie weiß, dass sie ihn am folgenden Tagen meistens wieder vergessen haben werden, doch es bekümmert sie längst nicht mehr. Hin und wieder gibt sie einen falschen Namen an, obschon sie sich nicht mehr darüber zu amüsieren vermag. Nahezu jeder, der zum wiederholten Mal zu ihr an die Hotelbar kommt, erachtet sie als Vertraute, als Freundin, nicht selten auch relativ unverhohlen als Objekt der Begierde. Sie selbst bleibt immer freundlich, ausnahmslos, aber sie erkennt in keinem von ihnen einen Freund, auch nicht in jenen, die ihre Gunst offensichtlich mit betont großzügigem Trinkgeld zu erwerben versuchen. Sie lächelt erfreut, und es ist eigentlich durchaus authentisch und ungekünstelt. Schließlich ist Geld der einzige Grund, weshalb sie hinter dem Tresen einer Hotelbar auf einer griechischen Insel steht.
Mittlerweile ist sie ziemlich geübt darin, die Gäste an der Hotelbar einzuordnen. Da ist der fünfzigjährige Alleinreisende mit angegrauten Schläfen und aufgeknöpftem Hemd, die Sonnenbrille ist lässig ins Haar geschoben, die Augen sind wach und hungrig. Er berichtet von seinen weiten Reisen, von wilden Abenteuern, von atemberaubenden Momenten in Tibet oder Myanmar. Bald jedoch wandeln sich Thema und Tonlage, der Blick geht vom Kosmopolitischen ins Private. Er schildert seine eigene Tragödie, erzählt vom Scheitern seiner Ehe, von der hässlichen Scheidung und davon, dass er seine Kinder kaum mehr sieht. Er bestellt noch einen Whisky Cola, trinkt ihn viel zu schnell und trottet dann davon.
Dann ist da der nicht mehr ganz junge Ehemann, der genau erkennen lässt, ob er sich gerade in Sichtweite seiner Frau befindet oder nicht. Manchmal bleibt er unnötig lange bei ihr an der Bar stehen, gibt sich heiter und ansatzweise charmant, vor allem aber jovial und etwas anzüglich. Wenn er dann unvermittelt in einen erstaunlich förmlichen Tonfall wechselt, dauert es in der Regel noch wenige Sekunden, bis die besagte Ehefrau neben ihn an den Tresen tritt und ihn fragt, wo er denn bleibe.
Ebenfalls kein seltener Gast ist die schwarze Witwe; zumeist zwischen vierzig und fünfundfünfzig Jahre alt, alleine unterwegs und wahlweise tatsächlich Witwe, geschieden oder unverheiratet. Sie ist auf der Suche nach einen Mann, einem Mann fürs Leben oder auch nur für eine Nacht, entweder bedeutend jünger als sie oder nennenswert vermögend. An der Bar glaubt die schwarze Witwe, in ihr eine Verbündete gefunden zu haben, eine Schwester im Geiste. Sie steht derweil hinter dem Tresen, hört geduldig zu und nickt an den richtigen Stellen. Nach dem Monolog atmet sie leise durch und blickt der schwarzen Witwe nach, wie sie sich wieder auf die Jagd begibt.
Sie kennt sie alle. Sie kennt die übermütigen jungen Typen mit ihrer jugendlichen Arroganz und die betrunkenen jungen Frauen mit ihren schlechten Frisuren. Sie kennt die gesetzten Herren mit den wässrigen Augen und die traurigen Damen mit den teuren Halsketten. Sie kennt die ewigen Nörgler und die notorischen Zungenschnalzer. Sie kennt sie alle und zugleich keinen von ihnen. Und niemand hier kennt sie.
Nach den langen Stunden hinter dem Tresen geht sie langsam nach Hause, taumelt mit schmerzenden Füssen durch die warme griechische Nacht. In ihrer kleinen Wohnung setzt sie sich vor den Fernseher, schaltet einige Male um und lässt sich schließlich von fremden Stimmen in den Schlaf reden. Und manchmal, wenn das nicht klappen mag, steht sie wieder auf, geht vor das Haus und hofft darauf, dass eine Katze vorbeikommt, die sich von ihr streicheln lässt.

Eine tolle Geschichte, eine, wie ich es mir gut vorstellen kann.
Es gibt diese Frauen hinter dem Tresen und es gibt all diese Leute vor dem Tresen, die Du so eindrucksvoll beschreibst, lieber Disputnik.
Auch die Einsamkeit, in die sie sich zurückziehen nach dem anstrengenden langen Stehen und Zuhören kann gut sein oder auch ein Kind zuhause, das auf sie Mama wartet…
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Vielen herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte… Und ja, wäre schön, wenn ein Kind zu Hause warten würde, überhaupt; ein Zuhause…
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Sich einsam fühlen ist schrecklich.
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Ja, mitunter nahezu unerträglich…
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Alleine sein ist toll,aber einsam sollte niemand sein
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Ja, der Unterschied zwischen den beiden kann sehr gross sein…
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Wunderbare, berührende und tiefgehenden kleine Episode aus dem Leben einer Frau.
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Toller Text! Man glaubt fast, selber an dieser Bar zu sitzen und zuzusehen. Ich frage mich nur, in welche Kategorie Kunden ich wohl eingeteilt würde… 😉
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Vielen Dank! Und vielleicht fragst du nächstes Mal die Dame oder den Herrn auf der anderen Seite des Tresens einfach danach, in welche Kategorie du fallen würdest? Herzliche Grüsse…
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Genau dieses Fragen würde mich wohl aus der diskreten Anonymität erst recht in eine Kategorie befördern: subtiler Anmacher, einsamer Kontaktsucher, überlegener Beobachter der genau weiss, was sie denkt etc. … wie auch immer, da bleibe ich lieber der unscheinbare, kontaktscheue, voyeuristische Beobachter im Hintergrund 😉
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Mitunter sehen die Beobachter auch mehr als andere… 😉
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diese Frau kenne ich glaube ich. sie hat die Katze gestreichelt. Lange, ausgiebig. Als hätte sie all das Gefühl, dass diese anderen Leute ihr vermittelt haben, irgendwie in sich gespeichert und gäbe diese nun als Zärtlichkeit an das Tier weiter…es ist die Katalysator-Frau. Sie transformiert giftige Leere in eine warme Berührung.
LG von der Fee
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Ein wunderschöne Weiterdenkgedanke; vielen lieben Dank dir dafür. Und fürs Lesen und für deine Worte sowieso…
Herzliche Grüsse zurück…
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Schöne Geschichte. Mag ich :).
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Vielen Dank! Das freut mich sehr…
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