Die adrett gekleideten Staatsmänner, sie schütteln sich die frisch gewaschenen Hände und gratulieren sich gegenseitig zum Erreichen einer Übereinkunft, die den schönen Schein wahrt. Der erschöpfte Langstreckenläufer weint Tränen des Glücks, während ein konserviertes Sinfonieorchester seine Rührung mit einer pathetischen Hymne untermalt, um seinen Sieg zu zelebrieren. Ein Gameshow-Kandidat ballt die Faust und reckt sie empor, nachdem er auch die letzte Frage richtig beantwortet hat. Ein Fußballfan johlt aus feuchter Kehle und leert sich als Zeichen der Zufriedenheit einen beträchtlichen Rest Bier über den Kopf.
Und dann ist da ein kleiner Mann. Er ist wohl etwa vierzig Jahre alt, sieht aber aus wie sechzig, seine Füße stecken in schweren und zerschlissenen Stiefeln, seine Kleidung hängt seltsam planlos an seinem Leib, und weite Teile seines Gesichts liegen hinter einem dichten, zerzausten Bart verborgen. Er kommt jeden Tag in die Bäckerei, exakt fünf Minuten vor Ladenschluss. Seine Pünktlichkeit ist frappierend, zumal er weder eine Uhr trägt noch ein Mobiltelefon besitzt. Einen Geldbeutel hat er längst nicht mehr, sämtliche Taschen haben Löcher, nur eine scheint noch intakt zu sein, und bisweilen klimpert ein wenig Kleingeld darin, doch meistens bleibt es ruhig. Dennoch kommt er jeden Tag in die Bäckerei, exakt fünf Minuten vor Ladenschluss, steht vor dem Tresen und lächelt schief. Die Verkäuferin, eine rundliche und resolut wirkende Frau, begrüßt ihn mit einem Namen, und womöglich heißt er tatsächlich Fritz, doch eigentlich weiß es niemand so genau. Sie fragt, wie es ihm geht, spricht über das Wetter und darüber, wie der Tag bisher verlaufen ist. Er nickt und murmelt, zuckt mit den Schultern, und schließlich sagt sie, wie es mit den Schokoladenkeksen und den Dänischen Plundern aussieht. Gelegentlich sind sie allesamt ausverkauft, auch alle Brötchen, und an diesen Tagen bedankt sich Fritz höflich, versucht einen ungelenken Knick und verlässt zögerlich die Bäckerei. Doch in den meisten Fällen sind noch Backwaren übrig, und die Verkäuferin gibt sie lieber an Fritz weiter, als sie wegwerfen zu müssen. Das sind die guten Tage, und an den besten dieser guten Tage reicht sie ihm Schokoladenkekse oder Dänische Plunder über den Tresen. Und an diesen besten Tagen sieht sie es, das Strahlen in seinem Gesicht, sieht das Leuchten in seinen Augen und das Lachen, zu welchem eigentlich nur Kinder fähig sind, sie sieht das klare Wasser eines Bergbaches, frisch gefallenen Schnee, das gesammelte Sonnenlicht im letzten Tautropfen des Morgens.
Die Staatsmänner mit ihren frisch gewaschenen Händen, die Langstreckenläufer und ganze Sinfonieorchester, die arroganten Gameshow-Kandidaten und die müden Fußballfans mit ihrem Biergeruch, sie alle kommen zu ihr in die Bäckerei. Sie gibt sich stets freundlich und zuvorkommend, doch der Rücken tut ihr weh, immer mehr, vom Stehen und von der Verkrampfung. Erst spät am Tag verschwinden die Schmerzen. Exakt fünf Minuten vor Ladenschluss.
