Sie war wohl etwa zwei Jahrzehnte alt, als man ihr sagte, dass etwas fehle. Dass es nicht reiche, nicht genüge. Dass sie nicht genüge. Sie hörte es nicht oft, und stets nur aus einem Mund, dem Mund eines Mannes, von dem sie damals dachte, dass er imstande sein könnte, all das einzulösen, was sie sich vom Leben versprach. Natürlich war er es nicht.
Eines Nachts, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, stand er vor dem Bett, in welchem sie lag, und wirkte wie ein Verkehrspolizist, der ihr wegen Falschparkierens einen Strafzettel schrieb. In beinahe amtlicher Manier informierte er sie, dass er den eben stattgefundenen Sex als unbefriedigend empfand, wie so viele Male, eigentlich wie immer. Überhaupt sei sie eine reizlose Person, gänzlich uninteressant und nicht sonderlich hübsch. Er verschwende hier nur seine Zeit. Am nächsten Morgen war er verschwunden. Sie sah ihn nur noch ein einziges Mal, Monate später, er war offensichtlich betrunken und versuchte vergeblich, in einer Bar eine Schlägerei anzuzetteln. Er bemerkte sie nicht, und sie wagte nicht, ihn anzusprechen.
Seither hatte sie zahlreiche Beziehungen, und die Männer, sie waren manchmal dunkelhaarig und manchmal blond, manchmal sehr viel größer als sie und manchmal sogar kleiner. Manche hatten einen Hund, einige eine Katze, einer sogar ein Meerschweinchen, was irgendwie seltsam anmutete. Sie waren alle ziemlich verschieden, doch in einer Sache waren sie sich offenbar einig. Sie sei wunderschön, pflegten sie jeweils zu sagen, dazu klug und liebenswert, und sie habe irgendetwas an sich, das sich nicht erklären ließe, etwas Geheimnisvolles. Sie hörte zu, sie hörte es häufig, sie hörte es durchaus nicht ungern. Doch sie glaubte es nicht. Nie.
Von all den Männern schien keiner imstande zu sein, all das einzulösen, was sie sich vom Leben versprach. Dann jedoch lernte sie einen Mann kennen, der seinerseits etwas an sich hatte, das sich nicht erklären ließ. Es war nichts Geheimnisvolles, sondern eher etwas Einnehmendes, Anziehendes. Einmal wurde sie von einer Freundin gefragt, ob sie sich in seiner Gesellschaft wohl fühle, und sie bejahte automatisch. Nur allmählich merkte sie, dass sie dabei nicht gelogen hatte.
Wenn sie miteinander schliefen, verschwand der Rest der Welt, sie spürte nicht nur ihn und seine Liebe, sondern auch sich selbst, vielleicht zum ersten Mal in dieser Intensität, und wenn er sie danach umschlungen hielt, fühlte sie sich sonderbar sicher. In ihrem Innern öffneten sich neue Räume, und allmählich begann sie, diese Räume einzurichten, sie mit Bildern zu füllen. Eines Tages stand ein großes flaches Paket in ihrer Wohnung, und als sie es auspackte, kam ein Gemälde zum Vorschein, das er für sie gefertigt hatte. Es war ein Bild, das aus vielen kleinen Fragmenten bestand, und jedes dieser Fragmente schien einen Moment ihres gemeinsamen Lebens zu zeigen. Sie hatte noch nie ein schöneres Geschenk erhalten, und Tränen liefen ihr über die Wange. Als er kurze Zeit später zu ihr in die Wohnung kam, umarmte sie ihn wortlos und bettete ihren Kopf auf seine Schultern. In ihrem Hals war etwas, das sich nicht hinunterschlucken ließ. Irgendwann bekam sie Schluckauf, und er brachte ihr ein Glas Wasser.
Einige Tage später übernachtete sie bei ihm, und nach einer weiteren wunderbaren Nacht erwachte sie, als er noch im Tiefschlaf lag. Sie setzte sich an den kleinen Tisch in der Küche und schrieb mit zittrigen Fingern einige Worte auf ein Stück Papier. Schließlich zog sie den Ring, den er ihr einst geschenkt hatte, von ihrem Finger und legte ihn neben den Brief. Dann verließ sie die Wohnung. Draußen stand ein Verkehrspolizist bei ihrem Auto und klemmte gerade etwas unter den Scheibenwischer. Sie wartete, bis er weitergegangen war, und riss den Strafzettel in kleine Stücke. Sie stieg in den Wagen und fuhr los.
Sie sah ihn nur noch ein einziges Mal, Monate später, er war offensichtlich betrunken und saß allein in einer Bar. Er bemerkte sie nicht, starrte lediglich auf sein leeres Glas, und sie wagte nicht, ihn anzusprechen.

wie gerne hätte auch ich hier ein anderes Ende gesehen,aber ich verstehe, was passierte und es entsetzt mich, wie immer, wenn ich erkenne, daß ein Mensch so tief verletzt wurde, daß er nicht mehr daran glaubt, daß es auch anders sein kann.
Die Angst im Innern füllt alles aus, auch wenn es zeitweise anders aussieht…wie bei ihr,
in Deiner berührenden Geschichte, aber GottseiDank ist es nicht immer so, es gibt Verletzungen, tief und blutend, die viele Jahre brauchen, aber dann doch heilen – dann, wenn viele Umstände zusammentreffen…und die Hilfe zur Heilung behutsam in kleinen Schritten erfolgt
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Ja, manches heilt, irgendwann, doch der Antrieb dazu muss halt meistens in einem selbst erfolgen, und manchmal bringt man ihn wohl einfach nicht auf… Vielen Dank für deine Worte, liebe Bruni…
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Wohin muss ich Geld überweisen, damit du in den letzten drei Sätzen ein „Happy End“ produzierst? Wohin…;-)
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Ich bin natürlich ganz und gar nicht käuflich!
Aber mach mal ein Angebot…
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Ha!
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Ja, aus Angst zerstören wir oft das, was wir lieben und sind uns dessen oft erst viel zu spät bewusst.
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Angst ist wohl einer der grössten Zerstörer, ja… Vielen lieben Dank dir für deine Worte!
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Es ist traurig, dass solche Muster und Verletzungen immer wieder aktiviert werden können, eine Art Eigenleben führen………….
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Ist es, ja, und oftmals ist es ungemein schwierig, sich aus diesem Muster zu lösen, sofern es denn überhaupt irgendwann irgendwie gelingt… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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TRAURIG! -Angst, es könne irgendwann nicht mehr so sein-
sozusagen, dadurch, am Leben vorbei gelebt…
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Ja, die Angst hält uns nicht selten vom Leben ab… Vielen lieben Dank für deine Worte!
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