Während ihr alles entgleitet, gleiten ihre Finger über die Haut. Stolpern über ihre Lippen, ihr Kinn, ihren Hals. Zwischen den Brüsten kommen sie kurz zur Ruhe, bewegen sich dann langsam zur Seite. Die Daumen umkreisen die Brustwarzen, ganz vorsichtig, als wären sie zerbrechlich. Wahrscheinlich sind sie es. Alles ist zerbrechlich.
Als sie sich kennenlernten, kreiste die Welt plötzlich in eine andere Richtung, der Wind drehte und trug unbekannte Düfte an sie heran. Aus jedem Grashalm und jedem Erdkrumen schien der Geruch des Lebens zu strömen, diese Frische, dieses Pulsieren abseits der Zeit. Er war schön, schöner als jeder andere Mann, und sie, sie war schöner als je zuvor. Im Spiegel erkannte sie ihr ungeschminktes Ich, das Gesicht hinter der Maske, und zum ersten Mal war das Lächeln keine Fratze. Wenn sie sich selbst berührte, dachte sie an ihn und fühlte sich leicht. Wenn er sie berührte, dachte sie rein gar nichts mehr.
Ihre Hände auf den Brüsten verstärken den Griff, das Streicheln wird allmählich zum Drücken und Drängen. Sie zieht an den Brustwarzen und lässt erst los, wenn der stechende Schmerz alles andere ausklammert. Sie braucht ihn, den Schmerz. Er ist fremd und befremdend, er ist ihr eher Feind als Freund, aber er füllt die Leerstellen.
In den gemeinsamen Momenten schien sie alles zum ersten Mal zu erleben. Der salzige Geschmack des Meeres auf seiner Haut, die berauschte Taubheit nach einer langen Nacht, die Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrem nackten Körper, die Finger, die sich um eine Kaffeetasse krümmen, das Glitzern in allen Augen, das ungestüme Gebaren der Gedanken und Gefühle; alles war neu und gleichzeitig vertraut. Manchmal sang er ein Lied für sie, spielte dabei Gitarre, und jeder Ton fand in ihrem Innern einen Widerhall. Sie lag derweil neben ihm, auf der Couch oder auf dem Boden, gestreichelt von den Klängen und seinem Blick.
Immer wieder graben sich ihre Fingernägel in die Haut, die sich über ihren flachen Bauch spannt. Die weißen Stellen, die sie hinterlassen, färben sich alsbald rot, während sich die Finger weiterhin krümmen und winden. Sie schiebt ihre Hände zögernd nach unten, Zentimeter um Zentimeter, bis hin zu den krausen Haaren in ihrem Schoss.
Sie glaubte nie an eine Form von Ewigkeit, sie wusste um die Unausweichlichkeit des Abschieds. Ihr war klar, dass alle Dinge enden, doch diese Gewissheit konnte kein Trost sein. Irgendwann ging er, musste gehen, und die Frage, ob er hatte gehen wollen, sie war nicht von Belang, obwohl sie oftmals gestellt wurde. Einige Stimmen meinten, es sei Vorsatz und Absicht gewesen, andere Stimmen sprachen von einem Unfall, einem Zufall, doch sie mochte die Stimmen nicht hören. Die einzige Stimme, die sie wahrnehmen wollte, war seine. Jene Stimme, die sich immer mehr zersetzte und zerbröckelte im Strudel der Zeit.
Ihre Hand bewegt sich rhythmisch zwischen ihren Beinen, ihr Atem wird laut und schnell, ihr Becken hebt sich sporadisch und scheint dabei stets an eine unsichtbare Grenze zu stoßen. Hinter geschlossenen Augen sieht sie, wie sie sich lieben, er und sie, wie damals, im Leben. Sie erkennt seinen Körper, seine Hände, erkennt ihre Beine, ihren Rumpf. Sie drängen zueinander, wie Magnete im Taumel.
Schließlich sucht sie seine Augen, sein Gesicht. Doch da sind keine Konturen, keine Formen. Da ist nur eine weiße Fläche, ein leeres Nichts, wo sein Gesicht sein sollte. Sie zuckt zusammen, ein unbekannter Schmerz fährt in alle Glieder. Sie beißt auf ihre Unterlippe, bis die Hautschichten platzen, presst die Augen zusammen und sucht nach ihrem eigenen Antlitz, doch erneut findet sie nur das Fehlen jeglicher Kurven und Linien, eine blanke Leinwand, unbemalt und bleich. Alles was sie sieht, sind zwei Körper mit kahlen Masken, die Gesichter zerstört. Trotzdem bäumt sie sich irgendwann auf, beinahe mechanisch und frei von jeglicher Lust, als wäre es eine Pflicht, eine notwendige Qual. Ihr Atem verharrt, ihre Muskeln verkrampfen und entspannen sich, im Mund der Geschmack von Blut und Erbrochenem und Salz.
Da war jener Tag, kurz bevor er gehen musste, sie saßen auf einer Wiese in einem Park. Er sah sie von der Seite an und fragte sie, wovor sie sich fürchte. Sie zuckte mit den Schultern, blickte in seine Augen und versuchte ein Lächeln.
«Ich habe Angst vor der Zeit», flüsterte sie. «Die Zeit zerstört alles.»
«Dann verstecken wir uns vor ihr», erwiderte er.
«Ja, verstecken wir uns», sagte sie. «So gut es geht, so lange es geht. Bis sie uns findet.»
Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ seine warme Handfläche auf ihrer Wange ruhen. Die Finger der anderen Hand glitten langsam über ihre Haut. Stolperten über ihre Lippen, ihr Kinn, ihren Hals. Zwischen den Brüsten kamen sie kurz zur Ruhe. Sie lächelte.
«Was denkst du?» fragte er leise.
«Nichts. Rein gar nichts.»

schwieriges Terrain
sorgsam und gefühlvoll
mit deinen stets wundervoll
gesetzten Worten erkundet…
Liebe WE-Grüße
vom Finbar
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Vielen Dank, lieber Finbar, fürs Lesen und Mitgehen auf dem schwierigen Terrain…
Ein schönes Restwochenende dir und liebe Grüsse zurück…
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Chapeau! Haut rein. Und ist trotzdem sehr fein. Danke.
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Vielen lieben Dank fürs Lesen und für dein Chapeau!
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