Salvatore war ein Tschingg. Viele Menschen nannten ihn damals so, ihn und die anderen, deren Eltern aus Italien in die Schweiz eingewandert waren. Ich nannte ihn Salvatore, schließlich war dies sein Name, und dafür waren Namen doch da, um Personen zu benennen. Ich weiß nicht, ob ich ihn mochte. Er war so alt wie ich und ganz in Ordnung, ein guter Junge, ziemlich fröhlich und nicht dumm, nicht besser oder schlechter als alle anderen, aber eben ein Tschingg in den Augen vieler. Die Tschinggen, die seien doch alle kriminell, sagte man. Die nehmen uns die Arbeit weg. Die seien laut und unhöflich. Die seien einfach anders.
Heute ist Salvatore kein Tschingg mehr. Er ist Schweizer, hat sich sogar einbürgern lassen und ist auch ein bisschen stolz darauf. Wenn man wissen will, ob er sich eher als Schweizer oder als Italiener fühle, gibt er zurück, dass zwei Herzen in seiner Brust schlagen. Und wenn man ihn fragt, ob er manchmal noch Tschingg genannt werde, verneint er. Er sei ja nicht besser oder schlechter als alle anderen, und mit allen anderen meint er alle anderen Schweizer. Wen er damit nicht meint, weiß er genau zu definieren. Die Jugos, die Albaner, die Neger, die seien schlimm, findet Salvatore. Die seien doch alle kriminell, sagt er. Die nehmen uns die Arbeit weg. Die seien laut und unhöflich. Die seien einfach anders.
Ist es vor allem gut, dass Leute, die früher nicht integriert, nicht akzeptiert waren, es mittlerweile sind? Oder ist es schlecht, dass manche unter ihnen nun jene ausgrenzen, die heute nicht integriert, nicht akzeptiert sind? Ist es gut, dass Menschen, die Rassismus ausgesetzt waren, mittlerweile nicht mehr darunter leiden müssen? Oder ist es schlecht, dass sie sich offenbar selbst zu Rassisten entwickeln können? Ist es gut oder schlecht, dass offenbar jede Generation seine Tschinggen hat, sich immer neue Tschinggen macht? Ich weiß es nicht. Gut und schlecht sind wohl keine präzisen Begriffe für derartige Fragestellungen. Und Tschingg ist keine präzise Bezeichnung für einen Menschen. Es ist nur ein Synonym für die Faulheit, sich mit einem Menschen auseinanderzusetzen. Salvatore hingegen ist eine präzise Bezeichnung für einen Menschen. Namen sind ein vorzügliches und praktisches Mittel, um Personen zu benennen, zu identifizieren. Und wenn zwei Personen genau gleich heißen sollten, ließen sie sich ziemlich sicher über das Geburtsdatum voneinander unterscheiden. Falls sogar das Geburtsdatum identisch sein sollte, wäre es wohl einfach ein Zufall. Wie jener, wo man zur Welt gekommen ist.

Schade, dass wir immer jemanden brauchen, auf den wir herabschauen können… Es ist gut, dass Menschen wie Salvatore angekommen sind, und es macht Hoffnung darauf, dass „die Jugos, die Albaner, die Neger“ irgendwann auch ankommen.
Vielleicht sind irgendwann alle „drin“, und dann brauchen wir kein „draußen“ mehr? Das wäre wirklich schön 🙂
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Ja, schön wäre es, wenn dereinst alle drin wären, aber der Mensch hat eine ziemlich reiche Erfahrung und viel Talent darin, andere auszugrenzen und vorzuverurteilen, und dieses Talent dürfte er wohl kaum aufgeben wollen, weshalb auch immer… Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Gedanken…
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