Eines Tages kam die Meldung. Man sei sich sicher, es gebe keine Zweifel. Die Welt werde untergehen, vollkommen, in sechs Monaten. Die Menschen, sie mochten es zuerst nicht glauben, beharrten auf einem Irrtum, doch immer mehr stellte sich Gewissheit ein. Panik breitete sich aus, blinde Wut entlud sich, wo sie nur konnte. Dann verfiel alles in Lethargie. So ging es etwa einen Monat lang.
Während die Kinder lachend in den Trümmern spielten, erwachten auch die Erwachsenen allmählich aus ihrer Starre. Man rieb sich die Augen, streckte die Glieder. Und man begann, die Welt in ihrem letzten Atemzug neu zu betrachten, voller Wehmut und Melancholie, aber auch mit wachsendem Staunen. Jede Pflanze war ein Meisterwerk, das es zu würdigen galt, jeden Duft behielt man in der Nase, so lange es möglich war, jeden Ton ließ man in den Ohren klingen, bis die Stille ihn wieder verschlungen hatte. Jedes Wort hatte eine Bedeutung, jede Begegnung war von unschätzbarem Wert, jede Berührung ließ den Körper erzittern, jeder Kuss schmeckte nach Liebe und jeder Blick traf das Herz. Am Vorabend der Apokalypse waren schließlich alle zutiefst traurig über das bevorstehende Ende, doch gleichzeitig beseelt von einer diffusen Zufriedenheit. Man hatte gelebt. Absolut, tief, echt, mehr als je zuvor. Fünf Monate lang.
Als am folgenden Tag eine Erklärung verbreitet wurde, dass man sich getäuscht habe und sich dafür entschuldige, machte sich Ernüchterung breit, Freude einerseits, aber auch Enttäuschung. Vorwürfe kamen auf, ein wenig abgeschwächt von einer allgemeinen Erleichterung. Und man beeilte sich, wieder zum früheren Leben zurückzukehren, zum Leben vor dem Leben, in wenigen Stunden.

fein 🙂
Weisst du, dass deine Zeilen mich sofort wieder mal (aber das liegt an mir) an Marc Aurel erinnert haben? Und zwar an seine Lebensdevise: Genieße jeden Tag, es könnte dein letzter sein, was kwasi „automatisch“ zu diesen Effekten führt, wie du sie oben so schön beschreibst…
Liebe Grüße
Finbar
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Vielen Dank, lieber Finbar… Schön, dass dich meine Zeilen an deinen Lieblings-Marc erinnern. Und er hat ja eigentlich recht mit dem Geniessen. Aber selbst er dürfte seine eigene Devise nicht jeden Tag beherzigt haben. Geht wohl gar nicht. Aber versuchen, ja, und so oft wie möglich…
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