Er war schön. Nicht bloß hübsch, nicht bloß gutaussehend, nicht bloß attraktiv. Sondern schön, richtig schön. So schön, dass Frauen, die ihn erblickten, von körperlichen Reaktionen berichteten, die einem Orgasmus nicht unähnlich waren, und manchmal ließen diese Emotionen gar Tränen der Glückseligkeit aus ihren Augen strömen. Männer zweifelten derweil an ihrer heterosexuellen Ausrichtung, wenn sie ihm begegneten, und die häufig auftretende Mischung aus Neid und Anziehungskraft führte in einzelnen Fällen zur vollkommenen Konfusion, die einer stationären Behandlung bedurfte. Seine Schönheit war so allumfassend und entwaffnend, dass er eigentlich in der Lage gewesen wäre, das gesamte Universum zu erobern oder allein durch seine Ausstrahlung den Weltfrieden herbeizuführen. Es gab nur ein kleines Problem.
Traugott.
So lautete seine Antwort auf die Frage nach seinem Namen. Er hätte ihn ändern lassen können, doch das wollte und konnte er seinen Eltern nicht antun. Sie hatten ihm diesen Namen gegeben, unter dem Einfluss von religiösem Eifer und in der Hoffnung, dadurch ihren tiefen Glauben an ihren Sohn weiterreichen zu können. Gelungen war dies nicht, Traugott glaubte weder an Gott noch an etwas, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Gott aufwies, und das Vertrauen fiel ihm generell schwer. Er hasste seinen Namen mit jeder Faser seines Herzens, doch in gleicher oder sogar noch größerer Intensität liebte er seine Eltern. Also behielt er seinen Namen. Und weil seine Eltern zwar nicht ihre Religiosität, aber zumindest ihr unbedingtes Bekenntnis zur Wahrheit an ihn weitergeben konnten, antwortete er auf die Frage, wie er denn heiße, stets mit diesem Wort.
Traugott.
Nachdem er seinen Namen jeweils gesagt hatte, bröckelte seine Schönheit wie eine Sandburg in der Flut, zersetzte sich wie ein Zuckerwürfel im Kaffee. Meistens reagierten die Fragenden entweder mit betretenem Schweigen oder hämischem Grinsen, abhängig von den Intentionen, die der Frage zugrunde lagen. Wer von amourösen Absichten getrieben war, konnte die Enttäuschung nicht mehr aus dem Gesicht radieren. Hingegen waren vor allem Männer beseelt von einer offenkundigen Erleichterung, wenn sie den Namen hörten, ihre Missgunst nahm rapide ab. Eines war jedoch bei allen Menschen identisch – wenn das Wort im Raum stand, verließen sie diesen Raum und den ehemals schönen Mann schleunigst. Und er blieb allein.
Traugott.
Enttäuscht von der Oberflächlichkeit der Menschen, die sich nur wegen seiner Optik zu ihm hingezogen und dann nur wegen seines Namens von ihm abgestoßen fühlten, zog sich Traugott zurück. Er kaufte eine kleine Hütte, die einsam in einer öden Landschaft stand, und lebte das Leben eines Einsiedlers. Seine Kontakte zur Außenwelt beschränkten sich auf seine Eltern, die ihn einmal im Monat besuchten, und den Postboten, der ihm die Wochenzeitung brachte, die er abonniert hatte. Eines Tages stieß er beim Lesen derselben auf eine Kleinanzeige. Dass darin eine Frau nach einem potenziellen Weggefährten suchte, war nichts Außergewöhnliches. Doch ihr Name ließ in Traugott ein inneres Leuchten entstehen, das er bisher nicht gekannt hatte. Noch nie hatte er ein schöneres Wort gelesen, noch nie hatten Buchstaben eine solch viszerale Wirkung auf ihn ausgeübt.
Isabelle.
Sie begannen eine Brieffreundschaft, die schnell vom warmen Nektar einer tief empfundenen Intimität benetzt war, wie Isabelle es zu beschreiben versuchte. Zum ersten Mal in seinem Leben sah sich Traugott mit der angenehmen Tatsache konfrontiert, jemandem ohne Angst sein Vertrauen schenken zu können. Isabelle schien sich nicht an jenem Wort zu stören, mit welchem er jeweils seine Briefe unterzeichnete, und allmählich machte Traugott seinen Frieden mit dem Namen und irgendwie auch mit der Welt, die dann doch nicht so schlecht sein konnte, wenn sie einen Menschen wie Isabelle beinhaltete. Bald kamen Isabelle und Traugott zur Übereinkunft, dass ein persönliches Treffen nicht nur der nächste logische Schritt war, sondern ein dringendes und drängendes Bedürfnis. Sie vereinbarten eine Zeit und einen Ort, und weil sie davon abgesehen hatten, einander Fotos zu senden, einigten sie sich darauf, dass sie beide rote Schuhe tragen wollten, um sich zu erkennen. Als Traugott sich viel zu früh am Treffpunkt einfand, setzte er sich auf eine Parkbank und konnte vor Nervosität kaum atmen. Als dann die ersehnte Frau mit den roten Schuhen auftauchte, entlud sich diese Nervosität in einem einzigen Wort.
Verdammt.
Die Schuhe waren rot, und sie waren schön. Was über ihnen folgte, war an manchen Stellen rot, aber nicht einmal in entferntester Weise schön. Wo die Haut sichtbar war, warf sie üppige Falten, der Oberkörper schien sich losgelöst von den Beinen entwickelt zu haben, die kümmerlich kurz, dafür umso stämmiger waren. Die Arme erinnerten an abgestorbene Äste, die aus dem Baumstamm ragten, und ein Hals war nicht zu erkennen. Ein solch großes Hörorgan wie jenes, das aus Isabelles linker Kopfseite wuchs, hatte Traugott noch nie gesehen, doch dann erblickte er das rechte Ohr, welches das linke in seinen Dimensionen bei weitem übertraf und langsam im Wind hin und her wogte. Das Gesicht bestand aus unwillkürlich zusammengesetzten Einzelteilen, die in ihrer Gesamtheit an abstrakte Kunst gemahnten. Traugott suchte nach Worten, um Isabelles Erscheinung sich selbst erklären zu können, doch mehr als der Begriff hässlich fiel ihm nicht ein. Sie hatte ihn noch nicht gesehen, und hastig zog er seine roten Schuhe aus, warf sie in den Mülleimer neben der Parkbank und schlich möglichst unauffällig aus Isabelles Blickfeld.
Verdammt.
Einige Tage später saß Traugott am kleinen Holztisch in seiner Hütte. Vor ihm lag ein Blatt Papier. Bisher war es perfekt, denn das einzige Wort, das darauf geschrieben stand, war ihr Name. Isabelle. Er klopfte mit seinem Kugelschreiber unaufhörlich auf die Tischplatte, während der Regen auf das Blechdach prasselte. Er wusste nicht, was er schreiben sollte. Er wusste nicht einmal, was er denken sollte. Die Stunden tröpfelten durch den Tag, und als es allmählich dunkel wurde, schreckte Traugott plötzlich hoch, atmete lautstark aus und begann dann zu schreiben. Er reihte Worte und Sätze aneinander, füllte eine Seite um die andere. Irgendwann hörte der Regen auf, und Traugott lehnte sich zurück, ließ seinen Blick über das Geschriebene gleiten und lächelte. Dann schrieb er ein letztes Wort auf das Papier.
Danke.

tja, die Namen werden uns verpasst und wir haben sie an der Backe. Wie wir aussehen, ob sie zu uns passen, wie wir mit ihnen klarkommen, das bedenkt niemand im Moment der Namensgebung. Eigene Wünsche werden projiziert und das wars. Meistens, nicht immer… 🙂
Ich finde, zu einem Traugott passt Schönheit und zu einer Isabell auch das Hässliche, aber es ist meine ureigene Meinung. Bestimmt nicht die der anderen *lächel*
Was wird er nun machen mit sich und seinem Namen? Kehrt er in die Welt der übrigen nicht passenden Namen zurück? Wird er sich zu einem freundschaftlichen Schluck Mineralwasser mit Isabell treffen? Er wird ihr wohl gebeichtet haben, daß er sich nicht aus der Anonymität traute, oder, lieber Diputnik?
Hätte ein anderer Name seine Persönlichkeit verändert? Narziss wäre für ihn auch nicht besser gewesen und weder mit Apoll oder Paris wäre er besser bedient gewesen.
Ach, Du meinst, er hätte sich einen „normalen“ Namen gewünscht? Wäre er mit Michael oder Herbert ein anderer gewesen? ICH weiß es nicht. Was meinst Du dazu?
Ich heiße Brunhilde, aber meinst Du, ich wäre eine Walküre geworden? Ich habe es mir mal kurzfristig gewünscht, weil ich die Kühnheit und die Kraft der sagenhaften Dame bewunderte, aber das ging schnell vorbei, als ich dann weiterlas und ich bin ihr nie ähnlich geworden..
Augenzwinkernde Grüße von Bruni, die wie immer Deine Schreibe sehr bewundert.
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Vielen Dank, liebe Bruni, für deine Worte und deinen Betrachtungswinkel…
Es ging mir nicht so sehr um den Namen. Namen machen keinen Menschen, wie auch Ohren, Haare, Herkunftsland oder Haut keinen Menschen machen. Doch derartige Dinge genügen vielen Menschen oft, um einen anderen Menschen zu beurteilen und zu verurteilen. Traugott verzagte ob dieser Oberflächlichkeit und zog sich zurück. Bei Isabelle musste er erkennen, dass auch er selbst nicht vor dieser Oberflächlichkeit gefeit ist. Und vielleicht hatte dieses Erkennen etwas Versöhnliches, vielleicht konnte er zumindest ein wenig Frieden mit der Welt schliessen…
Ein anderer Name hätte seine Persönlichkeit wohl kaum grundlegend verändert, aber vielleicht die Art und Weise, wie andere mit ihm umgehen, was wiederum auch ihn selbst beeinflusst hätte…
Doch eigentlich überlasse ich die Deutung und das, was er in seinem Brief schrieb, gerne deiner Vorstellung, deiner Perspektive, ebenso das, was darauf folgen könnte… Nochmals vielen lieben Dank für deine Gedanken, die wertvollen…
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Es ging um unsere Oberflächlichkeit, der auch er zum Opfer fiel, ich weiß, ich wußte es, lieber Disputnik, Du hattest es ja wunderbar herausgearbeitet, aber dieser Name – Traugott – war so verführerisch für mich, ich mußte mich auf diese Namensgeschichte einlassen u. bin dabei ein wenig am Sinn Deiner Geschichte vorbeigewandert… Liebe Grüße von mir
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Auf welchem Weg auch immer du wanderst, du bringst deine Sichtweise, deine Gedanken ein, und die sind wertvoll… Vielen herzlichen Dank dafür, liebe Bruni…
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ich wandere gerne dort, wo ich mich wohlfühle… Liebe Grüße
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Sehr schön, liebe Bruni… Herzliche Grüsse zurück…
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Das muß einem ja erst mal einfallen. Hat ja auch einen Kern der Wahrheit.
Gefällt mir sehr gut die Geschichte, viele Worte, aber Inhalt. Im Gegensatz zu vielen
anderen Geschichten, viele Worte, kaum oder wenig Inhalt.. Lewi
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Vielen lieben Dank für deine Worte! Schön, dass dir die Geschichte und der Inhalte gefallen…
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