Sie war eine gute Freundin, eine der besten, die ich je kennen durfte. Sie war klug und witzig und liebenswert, einer jener Menschen, deren Wärme ansteckend ist. Schon als Kind erkrankte sie an Leukämie, konnte aber erfolgreich behandelt werden. Irgendwann brach die Krankheit erneut aus, und sie musste sich einer langwierigen Therapie unterziehen. Im Gespräch mit ihrer Familie und anderen Freunden ging es häufig um Blutwerte, um neue Behandlungen, um ihren allgemeinen Zustand. Niemand sprach vom Tod.
Wir waren zu dritt und auf dem Weg zu jenem Krankenhaus, in welchem sie schon seit Wochen lag. Es war relativ weit entfernt, und während der langen Fahrt redeten wir über Banalitäten, lachten über unsere schlechten Witze. Unsere Freundin, sie war in unseren Köpfen, doch wir ließen sie nicht hinaus.
Es war ungewöhnlich still auf der Station. Die Pflegerinnen mit ihren Gesundheitsschuhen schlichen beinahe lautlos über die Gänge, und wenn Patienten oder Besucher zu sehen waren, schwiegen sie oder sprachen mit gedämpften Stimmen. Unsere Freundin war allein in einem relativ großen Doppelzimmer untergebracht. Als wir eintraten, lag sie im Bett. Seitdem sie im Krankenhaus stationiert war, hatte ich sie nicht mehr getroffen, und nun erkannte sich sie kaum. Die fehlenden Haare waren nicht neu, aber ihr Gesicht war aufgedunsen und gelb. Die Freundin, die wir kannten und liebten, sie hatte sich zu einem bizarren Abbild ihrer selbst verwandelt. Doch als sie uns sah, lächelte sie. Und war so schön wie immer.
Die ersten Minuten sprachen wir über ihr Befinden. Sie sagte, sie sei müde, sie habe Schmerzen, ihr falle die Decke auf den Kopf, und wir wussten nicht, wie wir darauf reagieren sollten. Wir ließen vor allem unsere Augen sprechen, ohne zu wissen, ob das, was sie sagten, auch wirklich das ausdrückte, was wir meinten. Die Wände schienen unser Schweigen einzuatmen, mein Blick aus dem Fenster fiel auf fremde Gebäude in einer fremden Stadt, und ich fühlte mich am falschen Ort. Wir alle waren am falschen Ort, niemand von uns hätte hier sein sollen. Und doch waren wir in jenem Zimmer, waren bei ihr, denn für sie war dieser falsche Ort der einzige Ort, an dem sie in jenen Momenten sein konnte.
Wir brauchten einige Anläufe. Die ersten Ansätze von Leichtigkeit erstarben in der Nüchternheit des Raumes, wurden von den weißen Wänden verschluckt. Doch allmählich gelang es uns immer besser, uns vom Klammergriff der Szenerie zu befreien. Wir redeten häufiger, erzählten Anekdoten, machten dumme Sprüche, fast so, als wäre dies ein normaler Tag an einem normalen Ort. Und schließlich begannen die Mauern zu bröckeln. Der Linoleumboden verwandelte sich in eine Wiese, unsere Füße wurden nackt, die Halme kitzelten zwischen den Zehen. Der Infusionsständer ähnelte immer mehr einem kleinen Baum, und das Surren der medizinischen Geräte wurde zum Rauschen eines Baches. Die Zimmerdecke löste sich auf und öffnete den Blick auf einen blauen Himmel. Vögel zwitscherten, der Wind verfing sich in den Blättern, und mittendrin saßen wir und lachten. Alles war erfüllt von Sorglosigkeit, von Fröhlichkeit, von jenem Gefühl, die einzigen Menschen auf der Welt zu sein.
Es war das letzte Mal, dass ich sie sah.
Wir hätten alles gegeben, um ihr Leben zu retten. Doch wir konnten nicht, niemand konnte es. Aber zumindest einen Nachmittag lang war es uns gelungen. Einen Nachmittag lang retteten wir ein wenig Leben, während das Sterben bereits begonnen hatte. Einen Nachmittag lang waren wir nicht am falschen Ort, sondern saßen im Gras.

ich werde es nie lernen, mit dem zu frühen Tod umzugehen…
Er gehört auch zum Leben, mein Verstand weiß es, aber das Herz ist immer wieder aufs Neue entsetzt.
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Nein, lernen kann man es wohl nicht… Viel zu spät kommt der Tod selten, doch viel zu früh leider allzu oft… Lieben Dank für deine Worte…
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Jede Sekunde, die man einem Sterbendem schenkt, in der er sein Sterben vergessen kann, ist eine wertvolle Sekunde – somit habt ihr der Freundin ein wundervolles Geschenk zum Abschied gemacht, dass du immer in deinem Herzen tragen wirst und so lange die Erinnerung lebt, wird sie nie völlig gegangen sein…
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Das wert- und wundervolle Geschenk, wir erhielten es wohl alle, ja… Vielen lieben Dank dir für deine Worte…
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..sehr ergreifend und auch mir steigen Tränen in die Augen..ein Nachmittag in dessen Schwere doch noch die Leichtigkeit Einzug halten konnte…..
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Vielen lieben Dank für deine Worte, fürs Lesen und irgendwie auch für die Tränen…
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Ich höre mein Herz nicht, doch es schlägt..
Ich spüre meinen Atem und die Träne die mir die Wange herunter rinnt.
Ja, leider gehören solche traurigen Wendungen zu unserem Leben und mit jedem Tag des Älterwerdens leider mehr.
Ich sitze hier und weiß nicht wie ich schließen soll…….
Vielleicht gehe ich gleich an den Deich, ziehe sie Schuhe aus und spüre das Gras.
Ja, ich glaube das ist eine gute Idee.
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Wirklich eine gute Idee, tu das… Ja, das Sterben und der Tod gehören zum Leben, und wahrscheinlich auch die Angst, die Schwierigkeit, damit umzugehen… Vielen Dank, lieber Joachim, für deine Worte und fürs Berührenlassen…
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