Sie steht vor der Staffelei und starrt auf die Leinwand, den Pinsel noch in der Hand. An den Borsten hängt ein Tropfen Farbe, der nach unten drängt, sich zu lösen versucht und schließlich zu Boden fällt, vor ihren Füssen zerschellt, ein Klecks wie ein Mahnmal. Sie betrachtet ihr Werk, dieses Abbild ihrer selbst. Das ist also, was sie in ihr selbst zu erkennen glaubt. So also sieht sie sich. Eine Frau, vom Leben gezeichnet, ein skizziertes Dasein. Zaghafte Linien und unklare Formen in reduzierten Farben, ausgewaschen und diffus an den Konturen.
Das ist keine Kunst, denkt sie. Das ist kein Ausdruck von Schönheit. Das ist nicht Ästhetik. Das ist nicht Wahrheit. Und es ist nicht der Pinsel, der sie belügt, auch nicht das Auge. Das Erschreckende am Bild ist die Zeit. Sie verabscheut die Zeit und das, was sie aus ihr macht. Sie denkt an Dorian Gray und wie er sich malen ließ, um das Gemälde an seiner Stelle altern zu lassen. Sie kann das nicht tun. Ihr Blick, er trübt sich, wenn sie ihn auf sich selbst richtet. Sie verschwimmt vor ihren eigenen Augen, und an den Wimpern hängt ein Tropfen, der nach unten drängt, sich zu lösen versucht und schließlich zu Boden fällt, vor ihren Füssen zerschellt, ein Klecks wie ein Mahnmal.
Das Bild steht auf der Staffelei, die Farbe trocknet allmählich, der Glanz weicht matten und stumpfen Flächen. Die Zeit steht still in jenem Rechteck, die Zeit ist tot, und sie hat sie ermordet, mit einem Pinsel. Sie selbst hängt an der Wand. Eine Frau, vom Leben gezeichnet, ein skizziertes Dasein. Zaghafte Linien und unklare Formen in reduzierten Farben, ausgewaschen und diffus an den Konturen. Neben ihr die gerahmten Fotos, Zeugen der erstarrten und erfrorenen Zeit, doch auf diesen Aufnahmen ist die Zeit keine Bürde, nichts Erschreckendes wohnt ihr inne. Das ist Kunst, denkt sie. Das ist Ausdruck von Schönheit. Das ist Ästhetik. Das ist Wahrheit. Die einzige Lüge an der Wand ist sie selbst.

Und obwohl ich sie verstehe, möchte ich ihr sagen, dass Kunst nicht nur Ästhetik ist, sondern dass Ästhetik nur ein Aspekt von Kunst darstellt, der abgeholt werden kann, aber nicht muss.
Dorian Gray habe ich damals mit einem echt anhaltenden Unbehagen gelesen und war danach aber völlig begeistert von Oscar Wildes psychologischer Raffinesse.
Glaubst du, sie sieht die Narben der Zeit als seelische Narben oder geht es ihr eher um ihre sich verlierende Jugend? [Ich weiß, das ist komisch, wenn ich dich über deine eigene Figur so frage, als wüsstest du nicht alles über sie. Aber ich weiß nie wirklich viel über meine Figuren.]
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Ich glaube, ihr geht es ausschließlich um den ästhetischen Aspekt, um die Oberfläche des Gemäldes. Unter diese Oberfläche zu schauen fällt ihr schwer – sie hat es verlernt oder konnte es nie.
Ihr Hadern mit der Zeit liegt wohl weniger an der sich verlierenden oder verlorenen Jugend, sondern an den Narben, an den Leerstellen, welche die Zeit hinterlassen hat. Die Linien, die Farben, die Konturen, sie lösen sich allmählich auf, sind immer weniger greifbar, sie selbst ist weniger greifbar, und so, wie sich andere Menschen irgendwann und irgendwie selbst finden, hat sie sich immer mehr von sich entfernt, und was bleibt, ist die Oberfläche, die ihr nicht behagt.
Über meine Figuren weiß ich ebenfalls nicht viel, zumindest nichts Allgemeingültiges. Es sind Skizzen. Zwar haben oder entwickeln sie für mich beim Schreiben eine gewisse Substanz, vielleicht einen Hintergrund oder eine Basis. Wer die Texte liest, sieht dann aber trotzdem nur Skizzen. Und einen Raum für Interpretationen und Gedanken, den man füllen kann, aber keinesfalls muss. Danke dir, dass du’s tust.
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ob wohl jeder Maler, jede Malerin sich diese Dorian Gray Gedanken macht beim Malen eines Selbstbildnisses?!
Die Dynamik eines Gemäldes liegt im Stillstand…
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Ich weiss nicht, aber ich denke und hoffe, dass bei den meisten Selbstbildnern das Gemälde zur Momentaufnahme werden soll und nicht der Maler selbst… Vielen Dank für deine Worte, lieber Finbar…
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Ich hätte einen Text erwartet, der an den Exorzisten angelehnt ist. Zum Glück habe ich mich geirrt.
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Den Exorzismus-Text setze ich auf die To-Do-Liste…
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Weia. Dann bin ich hoffentlich im Urlaub. Der Film hat mir wirklich schlaflose Nächte bereitet. „Wir haben deine Mutter hier drinnen. Hörst du sie schreien?“, Himmel, es gibt Szenen, die kann man einfach nicht mehr vergessen.
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Aber ist es nicht was Schönes, wenn Kunst einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen vermag? Nun, ich hoffe, dass meine textliche Teufelsaustreibung, sofern sie denn je die Dunkelheit der Welt erblicken sollte, dir dann keine schlaflosen Nächte bereitet. Schreiende Mütter klammere ich jedenfalls aus.
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Trotzdem *grusel*.
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