Er blättert in einer Zeitschrift, die Schrift der Zeit, die Zeit in Schrift und auch in Bildern, und einige dieser Bilder lassen ihn hadern und verzagen. Wie er sie verabscheut. Eine stilisierte Aufnahme zeigt notleidende Kinder aus einem afrikanischen Land, sie lachen in die Kamera, und er malt sich aus, wie seltsam und aufregend es für sie gewesen sein muss, als der mutmaßlich weiße Mann aus einem mutmaßlich reichen Industriestaat seine mutmaßlich überteuerte Kamera auf sie gerichtet hielt, und ja, es mag für diese Kinder ja ein Anlass zur Freude gewesen sein, doch er hasst ihr Lachen, zumal im Text zum Bild nur davon geschrieben steht, wie diese Kinder gar keinen Grund zum Lachen haben. Sie fristen ihr Dasein irgendwo zwischen Kindersoldatentum, verstümmelten Gliedmaßen und zerrissenen Strukturen, und sie maßen sich an, in eine Kamera zu lachen. Was fällt ihnen ein, sagt er zu sich selbst und verzichtet auf das Fragezeichen. Er lacht nie, wenn er Fotoapparate erblickt. Und wenn der Fotograf ihn zu derartigen Gesichtsentgleisungen auffordert und dabei von Käse erzählt, weiß er spätestens beim Betrachten der Aufnahme, dass ein artifizielles Lachen seinem Portrait nicht zum Vorteil gereicht. Er blättert weiter in der Zeitschrift, erblickt eine junge Frau. Auch sie lächelt, ein wenig zaghaft zwar, schüchtern und unsicher vielleicht. Doch sie lächelt, und die Augen leuchten sanft. Der Artikel zum Bild erzählt die Geschichte ihres Lebens, eine Geschichte, die sich von Vergewaltigungen in der Kindheit zu Vergewaltigungen in der Jugend erstreckt und schließlich von einer weiteren Vergewaltigung berichtet, die in einer Schwangerschaft endete, die ihrerseits in eine Totgeburt mündete. Dass er darauf mit leichtem Brechreiz reagiert, liegt nicht nur an der grauenvollen Vergangenheit dieser Frau, sondern auch an ihrer Unverfrorenheit, diese grauenvolle Vergangenheit mit einem lächelnden Gesichtsausdruck zu bebildern. Wie kann sie nur, sagt er zu sich selbst und verzichtet auf das Fragezeichen. Verärgert blättert er ein weiteres Mal um. Ein Mann von durchschnittlicher Prominenz verarbeitet auf einer Doppelseite die Trennung von seiner Ehefrau, und auf dem Foto, das seine Schilderungen begleitet, ist sein Antlitz von einem deutlichen Schimmer der Traurigkeit geprägt. Ein passendes Bild, findet er, und irgendwie glaubt er darin eine gewisse Nähe zu erkennen, Aufrichtigkeit und Authentizität. Er überlegt sich, warum im Gegensatz dazu die afrikanischen Kinder und die junge Frau ihn so unangenehm berühren. Er stellt sich vor, wie die Zeitschrift über ihn selbst berichtet, seinem Leben eine Doppelseite einräumt. Es gäbe wenig zu erzählen. Keine Entbehrungen, kein ständig im Nacken sitzender Tod, keine einschränkenden Umstände, keine verlorene Freiheit. Ein ziemlich normales Leben, mit den normalen Höhen und Tiefen. Das Bild zum Artikel würde sein Gesicht zeigen, mit der charakteristischen Melancholie in den Schatten der Augen und einer gewissen Ernsthaftigkeit in den Falten der Stirn. Und selbst wenn der Fotograf ihn zu derartigen Gesichtsentgleisungen aufgefordert und dabei von Käse erzählt hätte, wären seine Lippen nicht zu einem Lächeln verformt. Er zuckt mit den Schultern und blättert ein wenig in der Zeitschrift, und da sind sie wieder, die junge Frau mit der grauenvollen Vergangenheit und die notleidenden Kinder aus einem afrikanischen Land, die keinen Grund zum Lachen haben und es trotzdem tun. Wütend wirft er die Zeitschrift auf den Tisch. Was fällt ihnen ein, wie können sie nur, sagt er zu sich selbst und verzichtet auf das Fragezeichen.

es sind die Augenblicke voller Freude, die wir genießen müssen, auch wenn es rings um uns oftmals gar nicht soooooo gut aussieht…
Diese Kinder hier auf dem Foto schaffen es lachend (spielend, leicht) und nur so gelingt ihnen Überleben.
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Ja… Vielleicht braucht es manchmal dieses echte, wahre, leichte Lachen, um das Leid auszugleichen. Und vielleicht misslingt dieses Lachen manchmal, wenn es gar kein Leid auszugleichen gibt.
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ich höre hier etwas sehr Feines heraus. Etwas, was schwierig zu erklären ist. Du hast Dir darüber gute Gedanken gemacht und sie in noch bessere Worte verpackt.
Zum Trauern gehören gefälligst Tränen
Zum Traurigsein gehört ein angemessen mitleidheischendes Gesicht
und wenn Du fröhlich bist, Dein Inneres tanzt, dann zeig es gefälligst, sonst glaubt es Dir keiner…
Ich weiß aber z.B. von mir, daß ich lache, wenn es in mir tiefschwarz ist, ich schaffe es nur, mich dann noch mitzuteilen, wenn ich dabei lächle und bevor die ersten Tränen fließen, versiegen auch die Worte, sie schaffen den Weg nach außen nicht mehr…
Lachen bedeutet nicht unbedingt, daß sich leichtes Leben dahinter verbirgt und die größte Leidensmiene macht vielleicht einer, der von einem sehr leichten Schnupfen geplagt ist.
Einen sehr, sehr guten Text hast Du hier verfasst.
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Liebe Bruni, vielen Dank für deine Worte und deine Gedanken. Freu mich sehr, dass dir der Text zusagt.
Mir fällt immer wieder auf, wie ich mich, vor allem früher, in meinen zumeist kleinen, manchmal auch etwas grösseren Sorgen suhle und suhlte, während Menschen, die ungleich Schrecklicheres erdulden mussten und müssen, dennoch froh wirken. Dann kommt das schlechte Gewissen hoch. Dass Menschen, die Schlimmes erleben, trotzdem ein fröhliches Gesicht zeigen, mag eine Charaktereigenschaft oder auch Selbstschutz sein. Wie man hingegen ein überdurchschnittlich gutes Leben führen darf und doch so häufig Traurigkeit ausstrahlt, kann ich mir im Gegenzug aber kaum erklären. Muss ich wohl auch nicht. Seltsam ist es dennoch.
Nochmals lieben Dank für deinen Kommentar…
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