Er ist kein Bergsteiger. War er nie, wird er nie. Schon der Blick von einem Balkon in der dritten Etage lässt einen gewissen Schwindel entstehen und Schweiß ausbrechen. Er ist nicht Edmund Hillary, und er ist nicht Tenzing Norgay. Die beiden standen als erste Menschen auf dem Mount Everest, 8848 Meter über Meer. Natürlich waren sie stolz und glücklich, sie jubelten, und die Welt jubelte ihnen zu. Er ist kein Bergsteiger. War er nie, wird er nie. Doch er schaffte ebenfalls 8848. Nur der Jubel blieb aus.
8848. Er hatte nachgerechnet, zum Teil musste er schätzen. Vielleicht waren es etwas mehr, vielleicht etwas weniger. Es war eigentlich egal. Und eigentlich egal war eigentlich fast alles. Der Mount Everest und die Welt, die Freunde und die Liebe, die Zeit und das Leben. Alles blieb draußen, alles war weit weg, alles tanzte auf dem Dach der Welt. Er blieb allein im Marianengraben seiner Existenz, mit einer Gleichgültigkeit, die nur eine Ausnahme kannte. Zuvor wurzelte diese Ausnahme in der Angst vor jeder Höhe, eine Angst, die ihn beinahe unsichtbar zu machen drohte. Dann wandelte sich die Ausnahme zum Drang, möglichst schnell möglichst weit nach oben zu gelangen.
8848, das waren drei Tiefkühlpizzen, eine Fertiglasagne, zwei asiatische Nudelgerichte für die Mikrowelle, zwei große Sandwiches, fünf verschiedene süße Backwaren, acht Becher Schokoladencreme oder Milchreis mit Vanille aus dem Kühlregal, zwei Schokoladenriegel mit Marzipan und noch einige Kleinigkeiten. Für die 8848 brauchte er eine bis zwei Stunden. Er saß dabei auf dem Sofa und schaute einen Film, den er immer wieder unterbrechen musste, um in die Küche zu gehen und Nachschub zu besorgen. Als er nicht mehr weiterkonnte und alles schmerzte, legte er sich hin und schlief ein, schwitzend in der Kälte.
Jedes Wochenende kletterte er hinauf, immer wieder, über Monate und Jahre. Am Freitagabend bestieg er jeweils den Mount Everest. Am Samstagabend dann vielleicht nur noch den Kilimandscharo. An den übrigen Tagen blieb er möglichst nahe am Meer. Es ging darum, einen Höhenausgleich zu schaffen. Das Meer war der einzige Ort, um seine Reue und das schlechte Gewissen zu bekämpfen. Auch wenn er es längst leid war, musste er irgendwie funktionieren, musste arbeiten, musste den Schein wahren. Bis zum nächsten Aufstieg.
Auf dem Weg zum Gipfel kam jeweils die Euphorie. Ein einzigartiger Rausch, ein entrücktes Taumeln. Er wusste durchaus, dass nichts daran gut oder gesund oder löblich war. Aber es war in jener Zeit die einzige Zeit, in der er etwas empfand, das an Zufriedenheit erinnerte. Ein Völlegefühl inmitten der Leere. Ein Absturz in schwindelerregende Höhen. Und so sehr er die Scham, die Selbstverachtung und die Wut hasste, die darauf folgten, so heftig war der Trieb, die Sucht, wieder nach oben zu gelangen, in jene dünne Luft, die einzige Luft, in welcher er frei atmen konnte.
Irgendwann begann der Drang allmählich nachzulassen. Die Aufstiege wurden seltener, die Welt kam ihm wieder näher, oder er ihr. Der Blick, er öffnete sich. Da war mehr als nur der Berg. Der Fokus verschob sich, der Nebel der Gleichgültigkeit lichtete sich, die Konturen wurden klarer. Und heute liegen die 8848 weit hinter ihm, irgendwo in den Wolken der Zeit. Edmund Hillary und Tenzing Norgay würden ihm wohl widersprechen, aber manchmal bezwingt man den Berg nur, wenn man sich von ihm abwendet.

Tolles Bild!
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Ja!
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ein gewaltiger Text, voll von Gedanken, die sich anschickten, mit Dir den Gipfel zu erklimmen und Du hast es geschafft.
Wie gut, daß sich der Fokus wendete und er in der Lage war, sich von diesem Seelenabgrundberg abzuwenden…
WIE er es geschafft hat, möchten wir natürlich alle gerne wissen, aber das wäre bestimmt ein ganzes Buch wert, in dem es über viele Seiten Weinen dann doch zum guten Ende kommt.
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Die Antwort auf das Wie ist wohl wirklich nicht ganz einfach, oder vielleicht doch, wahrscheinlich einfach das Leben und die Liebe und die Zeit. Und die Menschen, die eben diese Dinge ausmachen und mit Inhalt füllen. Oder so…
Vielen Dank für deine Worte, liebe Bruni…
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