Der Wecker klingelt, sie steht auf, trinkt einen Kaffee ohne Milch und Zucker, stellt sich unter die Dusche, wird nass, reibt sich trocken, zieht sich an, verlässt das Haus, nimmt den Bus, geht zur Arbeit, erledigt ihre Aufgaben, macht Mittagspause, kehrt zurück an ihren Schreibtisch, arbeitet weiter, macht Feierabend, fährt nach Hause, duscht kurz, schminkt sich, besucht eine Bar, lässt sich einen Drink spendieren, küsst einen Fremden, tritt allein den Heimweg an, duscht erneut, putzt die Zähne, geht zu Bett, schläft ein. Der Wecker klingelt, sie steht auf, trinkt einen Kaffee ohne Milch und Zucker, stellt sich unter die Dusche, wird nass, reibt sich trocken, zieht sich an, verlässt das Haus, nimmt den Bus, geht zur Arbeit, erledigt ihre Aufgaben, macht Mittagspause, kehrt zurück an ihren Schreibtisch, arbeitet weiter, macht Feierabend, fährt nach Hause, duscht kurz, schminkt sich, besucht eine Bar, lässt sich einen Drink spendieren, küsst einen Fremden, tritt allein den Heimweg an, duscht erneut, putzt die Zähne, geht zu Bett, schläft ein. Ihr Leben ist die Tischdecke ihrer verstorbenen Großmutter, sie hat sie geerbt, und nun liegt sie da; ein reizloser Stoff, ein repetitives Muster, kreisförmig und akkurat, manchmal wirft das Material Wellen, doch sie sind nicht hoch, alles ist sauber, riecht frisch gewaschen und rein. Solange alles in Ordnung ist, denkt sie, ist alles in Ordnung. Die Tischdecke gefällt ihr, sie gibt ihr Sicherheit, und wenn der Mond explodieren sollte, bleibt sich die Tischdecke gleich. Und alles in Ordnung.
Irgendwann bemerkt sie einen leichten Widerwillen, kaum spürbar, aber unbestreitbar vorhanden, es riecht irgendwie seltsam, und sie stellt fest, dass der Geruch vom Tisch stammt. Sie nähert sich ihm, schnuppert ein wenig, und als ihr Gesicht über der Tischdecke schwebt, schreckt sie zurück. Fortan wächst ihr Misstrauen, die Abneigung steigt. Der Geruch, der Stoff, das Muster, die Kreise, alles ekelt sie an, immer mehr, sie wird zornig, dann traurig, dann wieder wütend, dann weint sie. Schließlich hält sie es nicht mehr aus. Sie reißt die Tischdecke vom Tisch, trägt sie in den Garten und verbrennt sie im kleinen Kugelgrill, bis nur noch verkohlte Reste übrig bleiben. Sie kehrt zurück ins Haus, und als sie den leeren Tisch erblickt, spürt sie einen Stich in der Brust, die Beine knicken ein, sie fällt zu Boden, und alles wird schwarz.
Der Wecker klingelt, sie steht auf, trinkt einen Kaffee mit Milch und Zucker, stellt sich unter die Dusche, wird nass. Sie müsste eigentlich zur Arbeit, müsste all die Dinge tun, die sie immer tut, doch sie bleibt einfach stehen und legt sich schließlich hin. Das Wasser prasselt unaufhörlich auf ihren Körper, tränkt jeden Winkel, und sie spürt, wie die Haut allmählich weich und weicher wird, alles wird weicher. Sie duscht den ganzen Tag. Erst am Abend dreht sie den Hahn zu und fühlt sich wie ein Schwamm, alles Poren sind offen, das Wasser ist tief in sie eingedrungen. Sie geht zu Bett, schläft ein.
Der Wecker klingelt, sie steht auf, trinkt einen Kaffee mit Milch und Zucker. Dann geht sie einkaufen. Eine neue Tischdecke. Weich und leicht, vollkommen weiß, ohne Muster. Es ist in Ordnung, denkt sie. Irgendwie, vielleicht.

wie recht Du da doch hast, lieber Disputnik
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Ein wunderschöner Text! Danke dafür!
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Bitte! Danke dir fürs Lesen und deine Worte…
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kurze knappe Sätze, bewußt so gehalten – gefällt mir sehr.
Dann die Erinnerungen, die irgendwann stören
Doch nach dem Entsorgen des Vergangenen kommt ein Anfang, der erst noch beginnen muß…
Ein erster Schnitt
Ob noch andere kommen?
LG zum Morgen
von Bruni
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Es heisst ja, der erste Schritt sei der schwerste, und häufig stimmt es wohl auch, was nicht bedeutet, dass es sich danach ganz kinderleicht schreitet… Vielen lieben Dank für deine Worte!
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