Ein Herz aus Gold.

Auf dem Asphalt, nahe am Rand des Gehsteigs, liegt ein Herz aus Gold. Es ist mit einer Halskette verbunden, ebenfalls aus Gold, feingliedrig und zart. Das Herz aus Gold liegt schon eine Weile da, als Anna es findet. Oh, wie schön! ruft sie stumm, aber fröhlich aus. Sie hebt die Halskette hoch und blickt sich … Weiterlesen Ein Herz aus Gold.

Der Friseur.

Man war längst kein Kind mehr, aber auch noch nicht wirklich erwachsen; man taumelte irgendwo dazwischen, in einer Schleuse zwischen den Zeiten, diffus und verführerisch zugleich. Manche standen auf wackligen Beinen im Berufsleben, andere studierten, wieder andere überlegten noch, was auch immer. Einige wohnten noch bei ihren Eltern, einige hatten bereits ihre eigenen Wohnungen, klein … Weiterlesen Der Friseur.

Sefi wollte doch.

Sefi wollte doch Kinderkrankenschwester werden, damals als kleines Mädchen, auch Fotomodell wollte sie werden, später dann Tiefseeforscherin; Sefi wollte doch bedeutsame Momente erleben; Sefi wollte doch warten, auf den richtigen Mann, auf den richtigen Zeitpunkt, sie wollte, dass es wunderschön wird; Sefi wollte doch etwas darstellen mit ihrem Sein, wollte etwas bedeuten mit ihrem Ich; … Weiterlesen Sefi wollte doch.

Kaputt.

Ein Mann erzählt, wie sein Vater starb. Er ist verreckt, sagt er. Erbärmlich verreckt. Am Ende war er nur noch Haut und Knochen, nur noch Haut und Knochen. Ganz bleich, die Haut wie Papier, oder nein, wie Gips. Als er endlich starb, war er schon lange nicht mehr am Leben. Er redet über den Vater … Weiterlesen Kaputt.

Eine Kugel.

Herr T. mag seinen Whisky und er mag seine Pistole. Daneben mag er nicht sonderlich viele Dinge; auch sich selbst mag er nicht besonders, doch der Whisky macht es erträglich, macht ihn erträglich. Eines Tages hantiert Herr T. in seiner kleinen Wohnung mit der Waffe, ist aber so betrunken, dass er die Pistole kaum halten … Weiterlesen Eine Kugel.

Eine Busfahrt.

Die Busse klingen anders als früher. Sie knattern und dröhnen nicht mehr, sie röcheln und husten nicht mehr. Heute hört man ein tiefes Brummen und ein hohes Sirren, das immer wieder anschwillt und abklingt. Mehr nicht. Alles andere wird unterdrückt, und dieses Unterdrücken ist anstrengend, so scheint es. Jedes Mal, wenn der Busfahrer an einer … Weiterlesen Eine Busfahrt.

Ein Leben.

Bei deiner Geburt ist die Nabelschnur eng um deinen Hals gebunden, wie ein dünner Schal oder ein Krawatte, wie ein Tau, und als du zur Welt kommst, tust du es ganz still und dunkelrot, nahezu blau, und eigentlich könnte dein Leben enden, bevor es beginnt, doch der Arzt gibt sein Bestes und sein Bestes ist … Weiterlesen Ein Leben.

Socken.

«Irgendwann wird das Lügen zum Reflex. Irgendwann erzählen sich die Geschichten von selbst, und es sind nicht mehr wirklich deine eigenen, deine wahrhaftigen Geschichten. Man wird zum Protagonisten in einem Theaterstück. Ich kann das nicht mehr.» «Und was willst du tun?» «Aufhören.» «Inwiefern?» «Einfach aufhören.» «Aha.» «Ja.» «Gibt’s keinen anderen Weg?» «Es gibt immer einen … Weiterlesen Socken.

Spurlos.

Mitten in der Nacht wacht sie auf, gerät in einen Dämmerzustand und hat das Gefühl, dass jemand neben ihr liege. Es ist nicht unangenehm, dieses Gefühl, doch als sie realisiert, dass es eigentlich gar nicht möglich ist, dass jemand bei ihr im Raum ist, zuckt sie zusammen und reißt die Augen auf. Sie blinzelt in … Weiterlesen Spurlos.

Sieben Glastische.

A. klagte immer wieder über Kopfschmerzen, seine Augen taten weh, ihm wurde häufig schwindlig. Seine Frau sagte ihm immerzu, er solle zum Arzt gehen, doch A. winkte stets ab. Irgendwann kippte er um, prallte mit dem Kopf auf den Glastisch und war tot. P. sagte immer, dass er jederzeit aufhören könne mit den Drogen, wenn … Weiterlesen Sieben Glastische.

Die Schattenmänner.

Man sitzt in diesem kleinen Warteraum beim großen Bahnhof. Gegenüber sitzt ein junger Mann mit riesigen Kopfhörern, sein Blick klebt auf dem Smartphone in seinen Fingern, sein Gesichtsausdruck erzählt von Konzentration oder von Gleichgültigkeit, es ist schwierig zu beurteilen. Draußen geht die Welt unter, vielleicht ist es auch einfach nur ein ganz normaler Dienstag, man … Weiterlesen Die Schattenmänner.

Nach der Angst.

Womöglich ist es gar nicht tot. Da ist kalte Angst in den Augen, und wer Angst hat, ist nicht tot. Man kennt es nicht, das Mädchen. Das weiße Kleid, das schwarze Haar, die Gesichtszüge, die Körperhaltung, alles an ihm ist fremd. Auch die Welt, die Umgebung, die wenigen Eckpunkte des Umlandes, die sich bieten, scheinen … Weiterlesen Nach der Angst.

Tropfen.

Sie steht in der Küche und blickt mit starren Augen auf den Wasserhahn. Nichts geschieht. Keine Regung. Sie ist zu Gast in einem Standbild. Mit ihren schmalen Fingern ertastet sie das Ventil des Hahns. Es ist trocken und kalt, nur ein wenig Kalk bröckelt ab. Sie dreht das Wasser auf und gleich wieder ab, das … Weiterlesen Tropfen.

Figlock.

Ihr Vater sagte ihr einst, es sei keine Schande, zu weinen, solange die Tränen dem Herzen entsprängen und nicht dem Kopf. In seinen Worten und mit seiner Stimme klang das so wichtig und richtig, so weise und wahrhaftig. Wenn sie den Satz auf ein Blatt Papier schreibt, fällt es ihr mitunter schwer, überhaupt zu verstehen, … Weiterlesen Figlock.

Neun Augenblicke.

Ein Mann fährt allein in seinem Mitsubishi auf der Autobahn, als er ein anderes Fahrzeug überholt, an dessen Steuer ein Mann sitzt, der genau gleich aussieht wie er, zumindest der Kopf und das Gesicht scheinen identisch; sogar der leichte Knick im Nasenrücken ist da, und während sich die Blicke der beiden Männer treffen, gerät der … Weiterlesen Neun Augenblicke.

Gerinnung.

Mit dem Kopf gegen die Wand, mit dem Kopf gegen den Spiegel, immer wieder. Ein Gesicht in Scherben, zersplittertes Leben, einige Tropfen Blut vielleicht. Alles gerinnt, trocknet ein, trocknet aus. Das Lächeln ist eine Lüge, doch was ist überhaupt noch wahr? Der Blick klammert sich an vage Punkte in der Ferne, dann wieder an einen … Weiterlesen Gerinnung.

Fallende Klaviere.

Sein Leben war gar wunderlich wunderbar, es gab nichts, woran ihm mangelte, sowohl in materieller als auch in immaterieller Hinsicht war er mit nahezu grenzenlosem Reichtum gesegnet, und selbst die kühnsten Träume und Sehnsüchte waren bei ihm lediglich Vorboten einer Realität, die sich früher oder später manifestieren und dabei die besagten Träume und Sehnsüchte an … Weiterlesen Fallende Klaviere.

Leichenwagen.

Er steht neben dem toten Körper. Das Wort Leiche widerstrebt ihm. Es wirkt so leer, so unpersönlich. Es klingt wie etwas, das nicht mehr funktioniert. Natürlich trifft dies eigentlich auch zu. Trotzdem möchte er den toten Körper nicht Leiche nennen. Auch wenn es nur eine Taube ist. Nur eine Taube. Nur. Die Beine ragen wie … Weiterlesen Leichenwagen.

Das letzte Kind.

In den kalten Nächten gefriert die Zeit, die Kühe geben nur noch saure Milch, auf riesigen Halden in entlegenen Gebieten verrottet altes Fleisch, in den Supermärkten sammelt sich Staub auf leeren Regalflächen, in den Krankenhäusern flackern einige letzte Lampen in stummen Korridoren, und er taumelt durch diese Welt, der jede Wärme entzogen ist, stolpert über … Weiterlesen Das letzte Kind.