«Irgendwann wird das Lügen zum Reflex. Irgendwann erzählen sich die Geschichten von selbst, und es sind nicht mehr wirklich deine eigenen, deine wahrhaftigen Geschichten. Man wird zum Protagonisten in einem Theaterstück. Ich kann das nicht mehr.»
«Und was willst du tun?»
«Aufhören.»
«Inwiefern?»
«Einfach aufhören.»
«Aha.»
«Ja.»
«Gibt’s keinen anderen Weg?»
«Es gibt immer einen anderen Weg, zumindest fast immer, oder? Aber man muss die Wege auch gehen können, gehen wollen. Man braucht Landkarten. Man braucht einen Rucksack oder eine Tasche mit Proviant. Man braucht gute Schuhe. Und Socken. Genügend Socken. Socken werden unterschätzt.»
«Und du hast keine Socken mehr?»
«Doch, ich habe Socken. Viele Socken. Aber sie haben Löcher. Alle.»
«Löcher kann man stopfen. Man braucht nur Nadel und Faden.»
«Man stopft die Löcher in Socken schon lange nicht mehr. Man kauft einfach neue Socken. Aber ja, ich hab’s versucht. Hab die Löcher immer wieder zugenäht. Doch sie rissen immer wieder auf.»
«Vielleicht liegt es am Faden.»
«Vielleicht. Jedenfalls habe ich genug davon, auf dieser Theaterbühne zu stehen, mit Löchern in den Socken.»
«Die Sockenmetapher haben wir wohl langsam ausgereizt, oder?»
«Ja. Ausgereizt.»
«Ist deine Entscheidung endgültig?»
«Ja. Endgültig.»
«Hast du dir das gut überlegt?»
«Gut überlegt? Gut überlegt? Ja, ich habe es mir gut überlegt. Ich habe fast nichts anderes mehr getan als zu überlegen. Dieses Überlegen, es hat alles ausgefüllt. Die Gedanken, sie waren der dicke Elefant, der in den Glasladen kommt.»
«Kommen Elefanten nicht in den Porzellanladen?»
«Dieser nicht. Dieser Elefant kommt in den Glasladen, mit einer großen gefälschten Louis-Vuitton-Handtasche, geht durch den Laden und stößt mit seiner dummen Tasche und dem breiten Becken alle Gläser von den Regalen. Überall liegen Scherben. Und trotzdem macht er keine Anstalten, aus dem Laden zu verschwinden.»
«Ist er immer da?»
«Wer? Der Elefant?»
«Ja.»
«Ja, ist er.»
«Jetzt auch?»
«Ja. Aber er schläft. Ich habe ihn betäubt.»
«Dann schaff ihn aus dem Laden!»
«Kann ich nicht. Er ist zu schwer.»
«Dann geh doch selbst aus dem Laden.»
«Das habe ich ja vor. Genau das habe ich vor.»
«So meinte ich es nicht.»
«Ich schon.»
«Ja.»
«Aber ich bin froh, dass wir darüber geredet haben.»
«Worüber?»
«Über den Elefanten im Raum. Und die Socken. Danke.»
«Gern geschehen. Ich hoffe, es hat dir irgendwie geholfen.»
«Ja, hat es.»
«Und wird sich an deiner Entscheidung etwas ändern?»
«Nein.»

Wunderbar.
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Vielen lieben Dank!
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Dieser verdammte Elefant. Ich kenne ihn auch.
Danke für dieses schöne Bild. Manchmal hilft es, das richtige Bild zu finden, die richtigen Worte. Manchmal lässt sich sogar ein Loch damit stopfen.
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Ja, und bei guten und wichtigen Socken lohnt sich das Stopfen… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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*schmunzel*
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Schön, dein Schmunzeln! Herzlichen Dank und liebe Grüsse…
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Hab einen schönen Tag, lieber Disputnik!
Liebe Mittagsgrüße vom Lu
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Den wünsch ich dir auch, lieber Finbar…
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Herzlichen Dank!
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