Da war diese kleine Hütte, sie stand am Rande einer kleinen Lichtung im Wald, direkt neben einem abgestorbenen Baum. Üppiges Grün umwucherte das Fundament, das Holz wirkte morsch und wies unzählige Löcher und Lücken auf. Die wenigen Fenster waren zwar in den meisten Fällen noch intakt, doch das Glas war seltsam schwarz und ließ keinen Blick ins Innere gelangen. Niemand wusste, wem die Hütte gehörte, niemand wusste, wer hier gewohnt hatte und ob vielleicht noch immer jemand hier hauste. Doch jedes Kind im Städtchen war überzeugt, dass da in der Hütte eine Leiche war. Ein toter Körper, ein toter Mensch. Man hatte es irgendwo gehört, jemand hatte davon erzählt, und früher oder später hatte jeder schon einmal darüber gesprochen, darum wussten alle Bescheid. Man wusste, dass da eine Leiche war, aber mehr wusste man nicht. Die Umstände, die Geschichten, sie blieben bloße Vermutungen, mitunter bizarre und abenteuerliche Theorien. Einer sagte, ein Mann habe seine dicke Frau umgebracht und sei seither damit beschäftigt, sie Stück um Stück zu verspeisen. Ein anderer erzählte von den Geschwistern, Bruder und Schwester, die ihre Eltern getötet hatten, weil sie sich liebten und die Eltern diese Liebe nicht gebilligt hatten. Dann wieder sagte einer, dass sich ein Mann in der Hütte aufgehängt hatte und mittlerweile seit zehn Jahren am Balken baumelte. Jeder hatte eine Geschichte. Doch niemand kannte die Wahrheit. Und niemand wagte es, die Hütte zu betreten. Sie blieb ein Geheimnis, groß und süß und seltsam wahrhaftig, ein verwittertes, aber unverrückbares Sinnbild der Kindheit.
Die Jahre und ihr Sog ließen das Bild der Hütte verblassen, in den Köpfen zerfiel das Holz zu Staub, die Leiche, wer auch immer sie war, vermoderte im erkalteten Wald. Es ist lediglich Zufall, dass man viele Jahre später auf die Hütte stößt, auf einem Waldspaziergang. Schon der erste Anblick bringt alles wieder zum Vorschein, die Erinnerungen kehren zurück und damit auch das Geheimnis um die Leiche. Man lächelt wehmütig. Und dann, nach kurzem Überlegen, beschließt man, erwachsen und gereift, wie man ist, die Hütte zu betreten und das Geheimnis endlich zu lüften.
Man klopft vorsichtig an, obschon man weiß, dass niemand öffnen wird. Als man ein wenig gegen die Tür drückt, löst sich das Holz von den Beschlägen, die Tür fällt knarrend zu Boden. Man betritt die Hütte, schleicht durch die staubige Dunkelheit, atmet die Zeit ein, die ungenutzt in der Luft wabert. Es ist kühl und finster in der Hütte, und es dauert eine Weile, bis man sich an die Dunkelheit gewöhnt hat. Man sieht sich um, ganz langsam und vorsichtig. Natürlich findet man keine Leiche, findet nicht einmal Anzeichen, dass hier jemand gewohnt hat. Es sind drei Räume, und in allen drei Räumen liegen Bretter und altes Gerümpel, mehr nicht.
Später steht man draußen vor der Hütte, die plötzlich viel kleiner ist, und raucht eine Zigarette. Man hat nichts herausgefunden. Man hat nichts gefunden. Nur etwas verloren. Man bläst den Rauch der Zigarette aus und betrachtet ihn. Die blaugrauen Schwaden hängen in der Luft und verändern stetig ihre Form. Dann lösen sie sich allmählich auf.

Eine spannende und sehr geheimnisumwitterte Geschichte hat man verloren…
Eigentlich ist es schade. Ach, hätte man bloß die Hütte nicht betreten *seufz*
Es geht doch schon so vieles kaputt, nun auch noch dieses…
Liebe Grüße von mir
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Ja, manche Geheimnisse verlieren jeden Wert, wenn sie gelüftet werden… Unsere Neugier spielt uns bisweilen einen Streich…
Vielen Dank dir und herzliche Grüsse zurück…
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