Jeder Raum ihrer neuen Wohnung ist Brachland, jeder Winkel erzählt von einem neuen Anfang, die Wände sind nackt, als wären sie gerade erst zur Welt gekommen. Der Geruch von Farbe hängt noch in der Luft, vermengt mit den süßlichen Vanillenuancen der Duftkerzen, die sie anzuzünden pflegt. Sie ist ebenfalls häufig nackt, wie frisch geboren, will sich wohl selbst davon überzeugen, dass ein neues Leben beginnt.
Sie mag ihre neue Wohnung. Sie wirkt warm und behaglich, selbst ohne Möbel. Sie will sich hier wohlfühlen. Sie will hier zu Haus sein. Das ist wichtig, sie weiß das.
Die Spinne sieht sie einige Tage nach ihrem Einzug zum ersten Mal. Sie hat keine Angst vor Spinnen, im Gegenteil, sie sind ihr durchaus sympathisch. Darum ist ihr der kleine Gast keineswegs unangenehm, sie fühlt sich sogar weniger allein. Die Spinne krabbelt über den Boden, bleibt hin und wieder stehen, dann verschwindet sie aus ihrem Blickfeld und vorerst auch aus ihren Gedanken.
Doch schon am nächsten Tag sieht sie die Spinne erneut. Unablässig baut sie an einem Netz im oberen Winkel eines Fensterrahmens, eilt hin und her und webt ihre kaum sichtbare Falle. Sie beobachtet das Tier aufmerksam, fasziniert von dessen Fleiß und Bestimmtheit. Sie denkt daran, wie sich aus dem Nichts etwas formen lässt, wie eine leere Ecke plötzlich Sinn und Zweck gewinnt. Sie lächelt vage und lässt die Spinne gewähren.
Einen Tag darauf ist das Netz am Fenster bereits zu beträchtlicher Größe und Dichte angewachsen. Sie ist verblüfft, aber auch ein wenig verärgert. Das Netz, es ist zu prägnant, es bestimmt den Raumeindruck, fängt nicht nur Fliegen und Mücken ein, sondern auch jeden Blick. Sie zögert zunächst, doch dann nimmt sie ein wenig Küchenpapier zur Hand und wischt das Spinnennetz aus dem Fensterrahmen. Die Spinne selbst flieht hastig und verschwindet in einer Ritze.
Einen weiteren Tag später ist das Netz bereits wieder da. Und nicht nur das; auch in anderen Ecken und Winkeln scheinen Netze zu entstehen, feine Fäden verlaufen von Wand zu Wand, von Ecken zu Kanten. Sie schüttelt den Kopf, holt erneut Küchenpapier und entfernte die Netze mit ungewohnter Entschlossenheit.
Sie kauft sich neue Bettwäsche, Geschirr und Besteck, eine kleine Kaffeemaschine. Sie bestellt im Möbelhaus einen kleinen Tisch und einen Sessel. Sie blättert in Katalogen und Magazinen und überlegt, in welchem Stil sie ihre neue Wohnung dekorieren soll. Sie organisiert ihr Leben neu. Und so sehr ihr die notwendigen Bemühungen missfallen, so sehr verleihen ihr die neuen Perspektiven eine merkwürdige Zufriedenheit und Leichtigkeit. Die vergangene Zeit verliert an Gewicht.
Als sie am nächsten Tag erwacht, glaubt sie, ein Geräusch zu hören, ein merkwürdiges Zischen. Sie richtet sich im Bett auf und lauscht. Sie kann das Geräusch nicht einschätzen, es klingt wie nichts, das sie je gehört hat. Sie lässt ein lautes Hallo ertönen, und das Geräusch verstummt. Sie steht auf und geht noch ein wenig schlaftrunken in die Küche, um Kaffee zu machen.
Beim Betreten des Wohnzimmers erschrickt sie heftig, zuckt zusammen und lässt die Kaffeetasse fallen. Mit weit aufgerissenen Augen sieht sie sich im Raum um, ein Raum, den sie nicht mehr wiederzuerkennen vermag. Jede Wand und jeder Winkel ist von Spinnennetzen bedeckt, alle Konturen scheinen aufgelöst und im undurchdringbaren Geflecht erstickt zu sein. Sie lässt sich auf die Knie fallen, starrt auf das kaum mehr zu erkennende Fenster und dann auf ihre Handflächen. Sie kann sich kaum bewegen, kann kaum atmen. Sie will nicht weinen. Also schreit sie, schreit lauter als je zuvor, schreit wie ein Kind bei der Geburt. Als ihre Stimme versagt, verstummt sie, lässt sich fallen und krümmt sich laut atmend auf dem Boden.
Schließlich steht sie auf und starrt minutenlang an die Wände. Dann geht sie in den Keller, holt einen großen Besen und macht sich an die Arbeit.

Kafja lässt grüßen! Danke für die Gänsehaut!
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Gern geschehen! Danke dir fürs Lesen!
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Fussball spielende Spinnen…
cool.
Kreuzspinnbein Kickers e.V. vs. Eintracht Weberknecht…😉✨
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…und immer ein Netz dabei…
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…..und selbst gesponnene Tore…Ei-Ballen-Bälle…und alles voll biologisch abbaubar und recyclefähig…
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Was ich an Deiner Geschichte sehr mag, ist dieser subtile Horror, der sich so schnell lautlos vernetzt und zuwebt wie eine kleine Spinne imstande ist einem ausgewachsenen Menschenexemplar zu zeigen wo der Hammer hängt und dass die Insekten und Arachnoiden dem Menschen in so ziemlich jeder Hinsicht mit Ausnahme von Fußball haushoch überlegen sind….
ich denk so an Filme von Jack Arnold…:)
LG von der Fee
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Ich glaub, Spinnen wären wohl auch im Fussball überlegen, wenn sie sich denn dafür interessieren würden…
Vielen Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse zurück…
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