Paul steht neben dem alten Toyota, seine Hand umklammert die Oberkante der geöffneten Fahrzeugtür. Mit ruhigem Blick schaut er die Straße hinunter, eine jener vielen Straßen, die nun vor ihnen liegen. Er stellt sich vor, wie er in einem Film mitspielt, und die Kamera betrachtet ihn, wie er regungslos da steht, neben dem alten Toyota, mit diesem Blick, der sich in der Ferne verliert. Paul mag, wie er aussieht in diesem Film. Er mag seine Körperhaltung, mag die Zufriedenheit in den Augen. Das war nicht immer so. Er lächelt, dann steigt er ein.
(Noch sieben Tage.)
Während Pierre auf die Straße blickt und mit einer Hand das Lenkrad hält, beobachtet Paul die Zuckungen in seinem Gesicht. Hin und wieder zerren die kleinen Muskeln an der Haut. Er folgt den Konturen des Profils, dieser natürlichen und schönen Linie. Sie sind ein Paar. Auch wenn sie sich bereits seit einigen Monaten kennen, muss Paul diesen Satz noch immer häufig wiederholen. Wir sind ein Paar. Es klingt sehr ungewohnt und zugleich atemberaubend schön. Pierre bemerkt das Starren von Paul, blickt ihn kurz an und lächelt. Dann konzentriert er sich wieder auf die Straße, das Lächeln noch immer auf den Lippen.
(Noch sechs Tage.)
Die Reise war Pierres Idee. Einfach losfahren und ankommen, hatte er gesagt, mit seinem französischen Akzent. Paul war zunächst unsicher, fühlte sich zu alt und zu langweilig. Dann sagte er Ja! Mit Ausrufezeichen. Er hatte lange genug das gemacht, was von ihm erwartet und erwünscht wurde. Jetzt musste er niemandem etwas erklären. Höchstens sich selbst. Aber das hatte noch Zeit. Pierre hatte ihn geküsst und dann angefangen, eine Liste mit den notwendigen Dingen für die Reise zu erstellen. Pierre machte häufig Listen. Meistens verlegte er sie dann oder warf sie weg. Das Aufschreiben genügt, sagte er jeweils. Und tatsächlich vergaß Pierre offenbar nie etwas.
(Noch fünf Tage.)
Paul war zweiundzwanzig Jahre lang verheiratet gewesen, und er war durchaus nicht immer unzufrieden. Seine Frau Julia war ein wunderbarer Mensch, ist es noch immer. Dennoch hatte er eine gewisse Erleichterung verspürt, als er ausgezogen war. Den Ehering trägt er trotzdem noch, nicht nur, weil es ihm nicht gelingt, ihn vom Finger zu ziehen. Er gehört zu ihm, wie das Muttermal an der Hüfte und die kleine Narbe an der Schläfe. Pierre trägt ebenfalls Ringe, zwei an jeder Hand. Paul weiß nicht, ob die Ringe ein Geschenk waren, und wenn ja, von wem. Doch es interessiert ihn nicht wirklich. Schließlich blickt er auch nicht immer aus dem Heckfenster des Toyotas.
(Noch vier Tage.)
Sie übernachten in kleinen Hotels, liegen gemeinsam in fremden Betten. Manchmal, wenn er Pierre streichelt, kommt sich Paul vor wie ein verliebter Teenager. Zumindest denkt er, dass sich ein verliebter Teenager so fühlen müsste. Auch wenn man wohl in jungen Jahren noch nicht so viele Leerstellen in der Zeit haben dürfte. Paul macht sich noch immer häufig Gedanken über das Wesen und die Dinge der Zeit. Doch im Moment hat der Moment mehr Bedeutung als die grenzenlose Zeit. Die Zeit hat eine andere Dichte, im Moment. Paul legt seine Nase an Pierres Hals, atmet ihn ein und atmet ihn nicht mehr aus.
(Noch drei Tage.)
Einmal fährt Pierre plötzlich von der Straße ab, biegt in einen kleinen Waldweg ein, der alten Toyota rumpelt und hüpft. Paul fragt, wohin sie fahren. Ein kleiner Umweg, sagt Pierre und lächelt. Nach einigen Minuten hält er an und schaltet den Motor aus. Vor ihnen liegt ein winziger See, beinahe komplett von Wald umgeben. Paul will wissen, ob Pierre diese Stelle kannte, doch er gibt keine Antwort. Stattdessen beginnt er zu reden. Pierre erzählt von einem Ereignis in seiner Kindheit, dann von einer Phase, in der er zu viel trank, dann von einem Freund, der starb. Paul hört zu, und obwohl vieles, was Pierre erzählt, alles andere als erfreulich ist, verspürt Paul eine unbeschreibliche Freude in sich, ein pochendes Hochgefühl, eine merkwürdige Euphorie. Als später Paul seinerseits erzählt, fühlt er es erneut. Er hält kurz inne und greift sich an die Wange. Dann lächelt er.
(Noch zwei Tage.)
Pierre ist ganz anders als er, mit seinem französisch herben Charme und seiner unstillbaren Lebenslust ist er beinahe das Gegenteil von Paul, und dennoch – oder gerade deswegen – ist da diese Vertrautheit in jedem Wort. Wenn sie nebeneinander im Toyota sitzen, wirkt es auf Paul, als seien sie essenzielle Teile eines Ganzen. Paul weiß gar nicht, ob er jemals zuvor ein essenzieller Teil eines Ganzen gewesen ist. Er mustert den Ring an seinem Finger und blickt dann wieder durch die Windschutzscheibe auf die Straße.
(Noch ein Tag.)
Am kleinen Finger von Pierres rechter Hand fehlt das letzte Glied. Es sieht merkwürdig aus, und trotzdem fühlt es sich richtig an, als Pierre die Hand auf Pauls Oberschenkel legt, während die andere mit lockerem Griff das Lenkrad hält. Paul legt seine Hand auf jene von Pierre und lächelt ihn an. Pierre blickt auf die Straße, die sich durch die beginnende Dunkelheit windet, blinzelt kurz und gähnt, macht dabei ein seltsam gurgelndes Geräusch. Paul muss lachen. Dann lehnt er sich zurück und schließt die Augen. Einige Zeit lang hört er noch den Motor des Toyotas und die Musik aus dem Radio. Irgendwann wird ein Song von Leonard Cohen gespielt. Pierre summt leise mit. Paul lächelt kurz. Und schließlich schläft er ein.
(…)
