Die Busse klingen anders als früher. Sie knattern und dröhnen nicht mehr, sie röcheln und husten nicht mehr. Heute hört man ein tiefes Brummen und ein hohes Sirren, das immer wieder anschwillt und abklingt. Mehr nicht. Alles andere wird unterdrückt, und dieses Unterdrücken ist anstrengend, so scheint es. Jedes Mal, wenn der Busfahrer an einer Haltestelle abbremst und schließlich die Türen öffnet, atmet der Bus laut aus, zischend und dringlich. Dann fährt er weiter.
Die alte Frau blickt aus dem Busfenster. Draußen liegt der Tag noch in seinen dunklen Anfängen, die Lichter malen die Stadt dunkelgelb und weiß an. Es regnet, die Tropfen eilen über die Fensterscheibe. Der Himmel weint, denkt die alte Frau. Sie mag es ihm nicht gleichtun, nicht hier im Bus. Sie ändert den Fokus ihres Blickes, schaut sich genau in die erschöpften Augen, die sich im Glas des Busfensters spiegeln. Ihre Mutter hatte immer gesagt, es wären lachende Augen. Die Zeit ist ein gefräßiges Biest.
Ihre Hand liegt auf dem grauen Kasten auf dem Sitz neben ihr, die Finger streicheln sanft den Kunststoff, als wäre er die Haut eines lebenden Wesens. Sie überlegt, wo sie den Kasten gekauft hat, kann sich aber nicht mehr erinnern. Überhaupt entgleiten ihr die erlebten Momente immer mehr. Nicht alle, manche sind präsenter und prägnanter als je zuvor. Aber vieles verschwimmt, wird zu einem grauen Brei.
Zu den Momenten, die sich trotz allem eingebrannt haben, zählen einige Tode. Ihr Mann ist seit zehn Jahren tot. Zehn Jahre. Was hat sie in den letzten zehn Jahren gemacht? Die Zeit, die ihrer Gegenwart am nächsten liegt, scheint ihr unendlich weit weg. Sie denkt an ihre verstorbene Schwester, an das Schweigen im Zimmer, als ihr Atmen aufhörte. Und sie denkt an ihre erste Katze, damals, als sie noch ein Kind war. Die Katze ging zum Sterben in den Keller und war ganz hart, als man sie fand.
Die Hand der alten Frau ballt sich zur Faust. Als sie ganz leise auf den Kasten klopft, bewegt sich etwas in dessen Innern. Sie beugt sich ein wenig vor und blickt durch das vergitterte Türchen. Die Augen der Katze wirken traurig, noch trauriger als sonst. Die alte Frau fragt sich, ob die Katze etwas ahnt. Ob sie es weiß. Sie möchte wissen, was das Tier fühlt. Und weiß nicht einmal genau, was sie selbst fühlt.
Der Bus biegt in eine andere Straße ein. Es dauert nicht mehr lange. Die alte Frau überlegt sich, was geschehen würde, wenn der Bus unaufhörlich weiterfahren und nicht mehr anhalten würde. Oder wenn sie einfach sitzen bleiben würde. Vielleicht könnte es immer so weitergehen. Sie könnten ewig leben. Aber eigentlich mag sie nicht ewig leben. Sie ist müde, nicht nur an diesem Morgen.
Eine junge Frau ist eingestiegen und setzt sich ihr gegenüber hin. Sie schaut von der alten Frau zum grauen Kasten und wieder zur alten Frau. Dann lächelt sie. Die alte Frau möchte ebenfalls lächeln, doch wahrscheinlich misslingt es. Das Gesicht der jungen Frau kommt ihr bekannt vor. Vielleicht ist eine jener jungen Damen, die beim Tierarzt arbeiten. Sie weiß es nicht genau. Hier im Bus sehen Menschen anders aus als sonst. Sie sitzen einander gegenüber und schweigen. Die Busse klingen anders als früher. Alles ist Brummen und Sirren. Als der Bus anhält, steigen die beiden Frauen aus und gehen in die gleiche Richtung. Die junge Frau fragt, ob sie den grauen Kasten tragen soll. Doch die alte Frau schüttelt den Kopf und klammert die Finger fester um den Haltegriff.

Wieder einmal eine wunderschöne Geschichte von dir – 1.000 Dank fürs Teilen!
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Und tausend Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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oh, und wieder ein neues Sterben, wieder geht Geliebtes den Weg, den alles nimmt…
Wunderbar, aber so sehr zum Traurigsein , Dein Text, lieber Disputik
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Ja, sehr zum Traurigsein, solche Momente… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni. Und herzliche Grüsse…
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