Herr T. mag seinen Whisky und er mag seine Pistole. Daneben mag er nicht sonderlich viele Dinge; auch sich selbst mag er nicht besonders, doch der Whisky macht es erträglich, macht ihn erträglich. Eines Tages hantiert Herr T. in seiner kleinen Wohnung mit der Waffe, ist aber so betrunken, dass er die Pistole kaum halten kann. Irgendwann löst sich ein Schuss. Doch zum Glück ist nichts Schlimmes passiert, die Kugel fliegt genau durch das geöffnete Fenster und richtet wohl keinerlei Schaden an.
Frau B. ist mit ihrer Tochter zu Fuß unterwegs nach Hause. Die pubertäre Phase des Teenagers hat ein weiteres Mal einer Auseinandersetzung Anlass geboten, irgendwann schrien beide, dann kauten beide auf ihren Unterlippen. Frau B. denkt an das kleine Mädchen mit den blonden Locken, das bei jeder Gelegenheit auf ihren Schoss kletterte und den kleinen Kopf an ihre Brust legte, und fragt sich, wo es geblieben ist. As Mutter und Tochter in die Straße zu ihrem Haus einbiegen, hören sie den Schuss höchstens schwach und nehmen ihn gar nicht richtig wahr.
Herr L. steht an der Bushaltestelle, in der Hand ein flaches Paket. Darin befindet sich ein Bild, er hat es selbst gemalt. Nun will er es einer Frau schenken, die er seit einigen Wochen kennt und die in ihm das längst verloren geglaubte Gefühl für Wärme und Farben wieder geweckt hat. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau nimmt er sich als atmendes, lebendes, liebendes Wesen wahr. Das Bild ist seine Art, davon zu erzählen. Herr L. kann es kaum erwarten, bis der Bus endlich kommt und ihn zu ihr bringt. Den Schuss hört er höchstens schwach und nimmt ihn gar nicht richtig wahr.
Frau D. steht an der Straßenecke und telefoniert per Handy. Am anderen Ende der Leitung ist ihre Schwester. Sie haben sich seit zwei Jahren weder gehört noch gesprochen, ein ebenso heftiger wie sinnloser Streit hatte sie entzweit. An diesem Tag rief ihre Schwester unvermittelt an. Nach einigen gestotterten Banalitäten erzählt sie von einer Krebserkrankung. Frau D. spürt, wie ihre Augenwinkel sich allmählich füllen, ihr Hals ist trocken. Den Schuss hört sie höchstens schwach und nimmt ihn gar nicht richtig wahr.
Herr und Frau K. verbringen den warmen und freundlichen Nachmittag auf der kleinen Wiese vor dem Haus, in dem sie wohnen. Beinahe jede Sekunde gehört dabei ihrem kleinen Sohn; er ist erst einige Wochen alt, hat aber bereits ein neues Selbstverständnis geschaffen und ihre Wahrnehmung der Welt grundlegend verändert. Herr K. hebt den kleinen Jungen hoch, weit über seinen Kopf, als wolle er ihn auf ein unsichtbares Podest stellen. Den Schuss hört er höchstens schwach und nimmt ihn gar nicht richtig wahr.
Herr T. schläft auf seiner verwilderten Couch, die Pistole liegt neben ihm auf dem Boden. Als Polizei und Ambulanz am Haus vorüberfahren, hört er die Sirenen höchstens schwach und nimmt sie gar nicht richtig wahr.

oh, oh, was hat er angerichtet … keiner sah etwas, keiner hörte etwas, oder nur nebelhaft leise und nur aus der Ferne …
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Jaha, und er wird wohl nie etwas davon erfahren… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni…
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