Er ist wohl gar nicht so alt, wie man im ersten Moment vermuten mag, vielleicht ist er fünfzig, womöglich sogar jünger. Doch er wirkt alt, alles an ihm gemahnt an die Unerbittlichkeit der Zeit, und wäre er ein Haus, würde der Wind durch die Löcher in seinen dünnen und brüchigen Wänden pfeifen. Natürlich fragt man ihn nicht nach seinem Alter, überhaupt vermeidet man jegliches Gespräch, zu groß ist das Befremden, das allein schon sein Auftreten und sein Gebaren auslösen. Wer ihn sieht, hat zumeist den Eindruck, dass er sehr unangenehm riecht, selbst dann, wenn man viel zu weit von ihm entfernt ist, um überhaupt etwas wahrnehmen zu können. Er ist ungepflegt und mürrisch und grobschlächtig und griesgrämig und schäbig und verwildert, er ist seltsam, sehr seltsam, aber noch seltsamer als er selbst ist die Kiste beim Schuppen hinter seinem Haus. Es ist eine große und massive Kiste, zwei Meter breit, einen Meter tief und einen Meter hoch. Der schwere Deckel ist mit zwei Schlössern gesichert, zudem liegen vier schwere Steine auf der Kiste. Er scheint ganz offensichtlich nicht daran interessiert zu sein, dass jemand die Kiste öffnet.
Niemand weiß wirklich, was sich in der Kiste befindet, doch alle glauben es zu wissen. Manche vermuten Geld in der Kiste, sehr viel Geld. Andere meinen, dass sich Tierkadaver darin befinden. Wieder andere sprechen von Diebesgut oder von verbotenen Giftstoffen. Und sehr viele Leute sind überzeugt, dass er eine Leiche in der Kiste aufbewahrt, vermutlich die Leiche einer Frau, seiner Frau. Denn manche wollen sich daran erinnern, dass da einst eine Frau im Haus gelebt hat. Man hat sie gesehen, ganz sicher, zumindest hin und wieder. Aber irgendwann war sie verschwunden, ohne dass von einem Todesfall die Rede war. Und wenn man nun also eins und eins zusammenzähle, findet man, könne es doch eigentlich gar keine andere Erklärung für die geheimnisvolle Kiste geben.
Eines Tages fährt ein Streifenwagen vor, Polizisten steigen aus, klingeln an der Tür des seltsamen Mannes. Als niemand öffnet, dringen sie gewaltsam in das Haus ein. Bald darauf folgt ein zweites Polizeifahrzeug, kurze Zeit später trifft ein Leichenwagen ein. Eine Nachbarin geht zu den Polizisten hin und fragt, was geschehen sei. Man will nicht genau Auskunft geben, bleibt sehr vage, aber irgendwann fällt der Begriff Suizid. Die Nachbarin blickt konsterniert und ein wenig apathisch, dann weist sie auf die Kiste hinter dem Haus hin. Die Polizisten brechen die Kiste auf und starren sekundenlang regungslos hinein. Schließlich winken sie die Nachbarin herbei.
Tatsächlich befindet sich eine Frau in der Kiste. Wahrscheinlich seine Frau. Zumindest ein Abbild seiner Frau. Auf weiche Tücher gebettet liegt da eine absolut naturgetreue Nachbildung aus Holz, liebevoll geschnitzt bis ins letzte Detail. Das Gesicht ist geziert von einem verträumten Lächeln, die Falten und Konturen sind absolut präzise und wahrhaftig. Der hölzerne Körper, er ist ein Kunstwerk in atemberaubender Perfektion, jede Faser erzählt von Herzblut, von Liebe. Die Nachbarin wendet ihren Blick ab, tritt einen Schritt zurück und starrt auf eine Stelle auf dem Boden, an der es eigentlich überhaupt nichts zu sehen gibt.

Eine sehr anrührende Geschichte, lieber Disputnik , in der Du das Geheimnis hütest bis fast zum Ende und es ist sehr überraschend, was sich da findet. Damit hatte man nicht gerechnet.
Niemals mit dieser Liebe, die sich hier offenbarte…
Lieber Gruß von Bruni
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Oh, vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine wunderbaren Worte, liebe Bruni…
Ganz herzliche Grüsse!
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Liebe – weit über den Tod hinaus – sie kann aufbauen, sie kann aber auch zerstören, wenn man ohne die gegangene Person nicht auskommt.
Du hast wirklich eine wundervolle Art zu erzählen.
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Oh, vielen lieben Dank fürs Lesen und für das schöne Kompliment!
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Danke für die Eindrucksvollen und wundervollen Worte voller Nach-be-über-denklichkeit…
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Und ich danke dir ganz herzlich fürs Lesen und für deine wundervollen Worte.
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