Man sitzt in diesem kleinen Warteraum beim großen Bahnhof. Gegenüber sitzt ein junger Mann mit riesigen Kopfhörern, sein Blick klebt auf dem Smartphone in seinen Fingern, sein Gesichtsausdruck erzählt von Konzentration oder von Gleichgültigkeit, es ist schwierig zu beurteilen. Draußen geht die Welt unter, vielleicht ist es auch einfach nur ein ganz normaler Dienstag, man kann es kaum erkennen hier drin in diesem entkoppelten Universum. Die Glastür öffnet sich, ganz langsam, und eine kleine alte Frau betritt den Warteraum. Sie bleibt stehen, sieht sich um, mustert den jungen Mann mit den riesigen Kopfhörern. Sie setzt sich auf einen freien Platz in der Ecke und umklammert mit zittrigen Fingern ihre Handtasche. Man lächelt die Frau kurz an, möglichst neutral, um zu manifestieren, dass man kein Handtaschenräuber oder Seniorinnenmörder ist. Die dünnen Lippen der Frau zucken ein wenig. Man weiß nicht, ob das ein Lächeln hätte sein sollen.
Der junge Mann mit den riesigen Kopfhörern starrt gebannt auf den kleinen Bildschirm in seiner Hand und zieht geräuschvoll die Nase hoch, was die alte Frau erschrocken zusammenzucken lässt. Sie sieht sich hilfesuchend um, und erneut versucht man, ihr mit einem Lächeln die Furcht zu nehmen. Die dünnen Lippen zucken wieder. Dann blickt die alte Frau auf den Boden. Das Muster ist ziemlich spannend, man verfällt ebenfalls dem Drang, den Linien zu folgen, die sich in geometrischen Figuren über den Boden erstrecken. Die Auseinandersetzung mit dem Muster des Bodenbelags hat etwas Meditatives, man klammert alles aus und sich selbst ein. Vielleicht ist die Stimme der Frau deshalb so einschneidend, dass man erschrickt.
Die hören die Welt gar nicht mehr, sagt sie ein wenig krächzend und nickt in die Richtung des jungen Mannes mit seinen riesigen Kopfhörern. Man lächelt, dieses Mal nicht beruhigend, sondern eher unsicher. Man erwartet vielleicht eine Tirade über die unerträgliche Nonchalance der Jugend, doch die alte Frau mag nicht über die Jugend reden.
Der Karl hat auch nichts mehr gehört, am Schluss. Man würde gern wissen, wer dieser Karl ist oder war und was mit ihm passiert sein mag, doch die alte Frau scheint nicht daran interessiert zu sein, ihrem Zuhörer ein vertieftes Hintergrundwissen zu vermitteln. Ich glaube, er wollte auch gar nichts mehr hören, der Karl.
Ach, er war ein Guter, der Karl. Aber irgendwann haben sie ihn geholt. Sie seufzt, und man nutzt ihre Atempause, um vorsichtig zu fragen, wer den Karl denn geholt hat, obwohl man eigentlich gar nicht weiß, ob man es wissen will. Die Schattenmänner, flüstert sie. Die Schattenmänner, wiederholt sie, nun deutlich lauter. Die haben ihn geholt. Sie haben ihn aber nicht mitgenommen. Sie haben ihn dagelassen. Viele Jahr lang. Und er ist dann dagehockt, einfach nur dagehockt, in seinem Sessel. Hat gehustet und irgendwas erzählt und dann wieder geschwiegen. Und ist dagehockt.
Sie erzählt weiter von den Schattenmännern, redet immer schneller und lauter, verhaspelt sich immer wieder. Der junge Mann nimmt seine riesigen Kopfhörer von den Ohren und hört einige Sekunden lang zu. Wir blicken uns an, ratlos und klein. Dann setzt er seine Kopfhörer wieder auf.
Diese Schattenmänner! Haben ihn einfach geholt, sagt die Frau nochmals, und dann sagt sie gar nichts mehr. Ihre Schultern sacken ab, sie sinkt ein wenig in sich zusammen und starrt wieder auf den Boden. Man tut es ihr gleich, folgt den Linien, die sich zu geometrischen Figuren verbinden. Irgendwann wird ein Zug angekündigt, der junge Mann mit den riesigen Kopfhörern geht hinaus auf den Bahnsteig. Man steht ebenfalls auf und blickt beim Hinausgehen die alte Frau an, doch sie scheint nicht auf diesen Zug zu warten. Vielleicht auf den nächsten. Vielleicht auf den übernächsten. Vielleicht auch nicht.

Ein wahnsinnig guter Text, lieber Disputnik.
Ich kann mir auch die Schattenmänner vorstellen. Ein einprägsames Bild, das ziemlich genau den Gemütszustand beschreibt, in dem sie es rausläßt, weil es einfach nicht drinbleiben kann in ihr. Es war zu viel…
Lieber Gruß von mir an Dich
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Oh, vielen Danke dir, liebe Bruni, für dein Lesen und für deine Worte. Freut mich sehr, dass dir der Text gefällt…
Herzliche Grüsse zurück!
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Die Männer mit den riesigen Kopfhörern, lieber Disputnik, sieht man im öffentlichen Raum immer häufiger,
sie machen auch mir ein wenig Sorgen, verhalten sie sich doch fast wie alte, taube Menschen…
Liebe Dezembergrüße vom Finbar
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Ich gebe ja zu, dass ich mich mitunter auch zu jenen Männern mit den riesigen Kopfhörern zähle. Manchmal braucht die Welt eben den passenden Soundtrack…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. Und liebe Grüsse zurück…
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Gegen „manchmal“ ist ja auch nichts einzuwenden, lieber Schreibfreund…
Liebe Morgengrüße vom Finbar
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