Er war Arzt, vielleicht ein guter, vielleicht auch nicht; er war ein Mensch, vielleicht ein guter, vielleicht auch nicht; er war einige Male im Rahmen eines Hilfsprojektes in Myanmar, und vielleicht war er tatsächlich ein guter Arzt und ein guter Mensch, man weiß es nicht. Man hat einmal mit ihm gesprochen, am Telefon, für ein Interview; man hat ihm einige Fragen gestellt, man hat sich interessiert, man hat ein wenig Zeit geteilt, ein paar Minuten nur, mehr nicht, aber immerhin, das ist nicht nichts. Man fand ihn sympathisch; ein wenig merkwürdig vielleicht, aber wer ist das nicht, es ist häufig ein schönes Attribut, bei ihm war es so. Er war freundlich, sprach relativ leise, da war eine Weichheit in seiner Stimme. Manche Sätze pflegte er zu wiederholen; er wollte richtig verstanden werden, war um Klarheit bemüht. Das Gespräch war angenehm, und man behielt es noch im Hinterkopf, für ein paar Tage sogar etwas weiter vorne. Später las man hin und wieder seinen Namen, die Erinnerungen traten hervor und tanzten kurz, dann verbargen sie sich wieder. Trotz allem war er eigentlich unwichtig, ein bedeutungsloser Fremder, der immer mehr in Vergessenheit geriet.
Irgendwann kam die Nachricht, dass er nicht mehr als Arzt arbeite, zumindest vorläufig. Der Frage nach dem Grund folgte eine halbgare Antwort; erst allmählich wurde klar, dass er einen Suizidversuch hinter sich hatte. Jemand machte einen unbeholfenen Witz darüber, dass ein Arzt doch eigentlich wissen müsse, wie man sich richtig umbrachte. Man mochte nicht höflich lächeln, auch nicht energisch protestieren, also wandte man sich ab. Nach der Nachricht dachte man an das Gespräch am Telefon, an die Weichheit in der Stimme, an Myanmar und an die Klarheit. Und man entwarf ein Leben für ihn, den Arzt und Menschen, der offenbar nicht glücklich sein wollte oder konnte; man skizzierte vage Szenarien und konstruierte haltlose Zusammenhänge; man dachte wohl auch an die eigenen Narben, wie häufig in derartigen Momenten. Man war ungewöhnlich betroffen und berührt von den Geschehnissen, und man war gar nicht so sicher, ob man die Ursache für diese Betroffenheit kannte oder nicht.
Einen Monat später versuchte er es erneut. Dieses Mal war er erfolgreich. Diese verdammte Klarheit.

und wieder ein Text, der sich einprägt, manche Zeilen mehr als andere, und der in seiner Gesamtheit die seltsame Wesensart des Menschen aufzeigt, sich so viele Infos wie möglich täglich einzuverleiben, manche kaum zu lesen, die meisten flüchtig, die anderen aufmerksamer. Und sogar echte Gedanken schleichen sich dann für kurze Momente ein, verlieren sich wieder über einer neuen Info, über einer Flut von Informationen und viele davon sind so krass, daß wir schnell weiterlesen.
Die einzelnen Schicksale berührten kaum noch und wenige mehr…
Über das in Deinem Text denke ich gerade nach, lieber Disputnik.
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Mich hat es eben auch nachdenklich gemacht, jenes Schicksal, jenes Dasein und Nichtmehrdasein. Schön, dass du dich inmitten der tosenden Informationsflut auf den Text eingelassen hast, liebe Bruni… Vielen Dank dir und herzliche Grüsse…
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