Wer ihn sähe, hier und jetzt, würde sich wundern. Wer ihn sähe, würde vom Lächeln in seinem Gesicht zur nackten Frau im Hochglanzmagazin in seinen Händen blicken, dann wieder zurück zu seinem Gesicht. Wer ihn sähe, würde staunen über die Tränen, die plötzlich die Augen fluten. Ja, wer ihn sähe, hier und jetzt, würde sich wundern.
Doch in dieser Möglichkeitsform liegt keine Möglichkeit. Herr M. ist allein, und eigentlich interessiert es niemanden, was Herr M. tut und denkt, niemand wundert sich. Außerdem würde Herr M. nicht erzählen wollen. Nicht von seinem Alleinsein oder seinen Gedanken. Nicht von den Dingen, die ihn lächeln lassen, nicht von den Dingen, die ihn weinen lassen. Nicht von A., die genau so aussah wie die Frau in der Fotostrecke im Magazin in seinen Händen.
Manchmal berührte sie ihn ganz sanft mit ihren Fingerkuppen, und er zuckte kurz zusammen, bevor das Blut heiß durch seinen Glieder schoss und ihn mit Leben füllte. Er kannte ihren Körper besser als seinen eigenen, konnte ihn vermessen und verlor sich so gern in einzelnen Regionen. Minutenlang konnte er die Stelle zwischen Bauchnabel und Scham küssen oder die zarte Haut auf der Innenseite ihrer Schenkel. Er ließ seine Zunge um ihre Brustwarze kreisen oder atmete am Hals ihren Geruch ein. Und wenn sie dann vereinigt in der aufgelösten Zeit lagen und er ihr Aufbäumen spürte, konnte es passieren, dass er weinte, gerade so, als ob die Schönheit des Momentes sich Raum brechen müsste.
Irgendwann ging er Zigaretten holen, und als er zurückkam, war sie nicht mehr da. Die Jahre marschierten stoisch an ihm vorüber, ignorierten ihn oder grinsten ihn schief an, und die ganze Zeit hoffte er, A. wiedersehen zu können. Manchmal glaubte er, sie in einer Menschenmenge entdeckt zu haben, dann wieder meinte er, sie auf einem Bild erkannt zu haben, und beinahe jedes Mal, wenn es an seiner Tür klingelte, war da kurz der Gedanke, dass sie es sein könnte. Sie war es nie, und schließlich hörte das Klingeln auf.
Heute ist A. nur noch ein warmer Punkt in seinem Hinterkopf, womöglich der wärmste. Herr M. wischt sich die Augen aus und starrt auf die Frau im Magazin, das er mit zitternden Fingern umklammert hält. Sie hat sich verändert. Und sieht trotzdem noch genau so aus wie damals.

Ein inniger, ein mitfühlender Text, über einen, der einsam ist
und über seinen Traum, der ihm die Tür zu ihr öffnete, bis sie
zuschlug für eine viel zu lange Zeit…
Lieber Gruß von mir
LikeLike
Schön, freut mich sehr, dass dir der Text gefällt.
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. Und herzliche Grüsse zurück…
LikeGefällt 1 Person
ich habe bei Dir noch keinen Text entdeckt, lieber Disputnik, der es nicht wert gewesen wäre, entdeckt zu werden…
LikeGefällt 1 Person
Dein Entdeckergeist ist mir eine grosse Freude, liebe Bruni.
LikeGefällt 1 Person
Das freut mich jetzt auch 😊
LikeGefällt 1 Person
Sehr bedrückend, einfühlsam, einnehmend! Liest sich gut mit nachdenklicher Musik, danke!
LikeLike
Freut mich sehr, vielen lieben Dank dir.
Und umso schöner, dass Text und Musik zueinander finden…
LikeGefällt 1 Person