In den kalten Nächten gefriert die Zeit, die Kühe geben nur noch saure Milch, auf riesigen Halden in entlegenen Gebieten verrottet altes Fleisch, in den Supermärkten sammelt sich Staub auf leeren Regalflächen, in den Krankenhäusern flackern einige letzte Lampen in stummen Korridoren, und er taumelt durch diese Welt, der jede Wärme entzogen ist, stolpert über unsichtbare Hürden, während Sand und Staub sich an die Luft klammern und alles in ein diffuses Grau tauchen, und alsbald greift er sich an den Kopf und spürt letzte Haarbüschel, die sich beinahe widerstandslos loslösen, und dann ist die Kopfhaut ganz kahl und nackt, und irgendwann beginnt er zu rufen, doch niemand hört ihn, irgendwann beginnt er zu schreien, doch niemand scheint da zu sein, irgendwann beginnt er zu brüllen, doch seine Stimme stirbt in der leeren Landschaft, und dann, nachdem er auf seine Knie gesunken ist, sieht er ein grelles Licht, dann hört er einen Knall, und schließlich wacht er auf, zitternd und schlotternd, unbedeckt und schutzlos, aber immerhin im Diesseits, im Hier und Jetzt, und später dann, sicher aufgehoben im Tageslicht, denkt er an ein Buch, das er in jungen Jahren einst las, Die letzten Kinder von Schewenborn von Gudrun Pausewang, und an mehreren Stellen weinte er, konnte sich kaum mehr halten, alles floss aus seinen Augen, und er weiß nicht, warum er sich genau jetzt daran erinnert, denn an den Kalten Krieg und Atombomben denkt er derzeit keineswegs, auch die Ängste, die irgendwo in den Knochen stecken, haben sich verändert, doch vielleicht kennt die Welt abseits des Bewusstseins keine Gesetze der Zeit, man nimmt eine Abkürzung zum Damals, ohne die übersprungenen Jahrzehnte überhaupt zu registrieren, genau so, wie man es auch nicht merkt, wenn man sich jede Nacht hundert Mal windet und wendet im Schlaf, und früher, als Kind, fiel er häufig aus seinem Bett, ohne aufzuwachen, und am nächsten Morgen schlug er die Augen auf und war verwirrt, fühlte sich am falschen Platz, blinzelte in ein falsches Blickfeld, und häufig begann er dann zu zittern und zu schlottern, denn zumeist nahm er die Bettdecke nicht mit, als er zu Boden stürzte, und so schlief er in der kühlen Luft seines Zimmers, unbedeckt und schutzlos, und erst mit dem Aufrichten und Aufstehen war er wieder zugegen, war wirklich wach und wahrhaftig im Jetzt, während die Wirrnis und der Schrecken in den kalten Nächten blieben, mit den kranken Kühen und dem faulenden Fleisch und den stummen Korridoren.

Die Angst im schutzlosen Raum – wie gut hast Du sie verarbeitet Zeile für Zeile, lieber Disputnik, und fast fühle ich sie, so nahe führst Du sie an mich heran.
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Vielen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen, fürs Zulassen der Angst, für deine Worte… Herzliche Grüsse
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Fantastisch! Was für eine eindringliche Atmosphäre, die du mit diesem Text entstehen hast lassen.. Wirklich toll, toll geschrieben, gefällt mir sehr! 🙂
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Oh, schön, das freut mich sehr, dass dir der Text gefällt! Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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