Auf dem Asphalt, nahe am Rand des Gehsteigs, liegt ein Herz aus Gold. Es ist mit einer Halskette verbunden, ebenfalls aus Gold, feingliedrig und zart. Das Herz aus Gold liegt schon eine Weile da, als Anna es findet. Oh, wie schön! ruft sie stumm, aber fröhlich aus. Sie hebt die Halskette hoch und blickt sich vorsichtig um, als ob sie befürchte, von jemandem beobachtet zu werden. Anna denkt an ihre Mutter, die vor drei Monaten gestorben ist, und spielt mit dem Gedanken, dass ihre Mutter sie zum Herz aus Gold geführt hat. Sie ist erfreut, dass das Lächeln fast nicht mehr schmerzt. Später kauft sie Zigaretten am Kiosk, und als sie das Zigarettenpäckchen in ihrer Tasche verstaut, fällt die Halskette unbemerkt zu Boden. Peter sieht, wie Anna die Kette verliert, doch er reagiert zunächst nicht, bleibt still. Als Anna weitergegangen ist, tritt er rasch zu Stelle hin und hebt das Herz aus Gold möglichst unauffällig hoch. Er geht zum kleinen Park in der Nähe, setzt sich auf eine Holzbank, macht sich eine Dose Bier auf und betrachtet seinen Fund. Er macht sich nichts aus Schmuck, findet ihn unnötig und dekadent, aber gerade jetzt schätzt er die Tatsache, dass Schmuck mitunter sehr wertvoll sein kann. Er überlegt sich, wie und wo er das Herz aus Gold zu Geld machen könnte, und nimmt einen weiteren Schluck aus der Bierdose. Dann lehnt er sich zurück, schließt seine Augen und lässt sich das Gesicht von der Sonne wärmen. Als er kurz einnickt, gleitet die Halskette durch seine Finger und fällt ins Gras. Als Peter die Augen aufschlägt, erblickt er vielleicht fünfzig Meter entfernt zwei Polizisten. Zwar weiß er nicht, warum sie ihn behelligen könnten, doch es wäre nicht das erste Mal und er mag keine Polizisten, also steht er auf und geht betont beiläufig, aber zügig fort. Die Halskette vergisst er. Gefunden wird sie von Mark, der sich eine Viertelstunde später auf die Holzbank setzt und ein Tomaten-Mozzarella-Sandwich verspeist. Wie so oft entgleitet eine Scheibe Tomate dem Brötchen und fällt zu Boden, und als Mark sie wegräumen will, entdeckt er das Herz aus Gold im Gras. Er nimmt es an sich und malt sich bereits aus, wie er es Ramona schenkt, wie er ihr die feingliedrige Kette um ihren zarten Hals hängt, sie hinter dem Ohr küsst und dann flüstert, dass er sie liebt. Als sie sich später in einem Café treffen, sitzt ihm Ramona mit seltsam traurigem Gesicht gegenüber. Sie müsse ihm etwas sagen, beginnt sie nach langem Zögern, und spätestens, als sie immer wieder betont, wie leid es ihr tue und dass sie ja Freunde bleiben könnten, hört Mark gar nicht mehr zu. Kurze Zeit später steht er allein am Straßenrand und bemüht sich, nicht zu weinen. Er blickt auf das Herz aus Gold in seiner Hand und beißt sich auf die Unterlippe. Dann wirft er die Kette möglichst weit weg. Als Tina an jener Stelle vorübergeht, übersieht sie die Kette zunächst. Ein Aufblitzen im Augenwinkel lässt sie innehalten. Voller Entzücken hebt sie das Herz aus Gold hoch. Endlich! sagt sie laut und meint damit, dass sie endlich wieder einmal von Glück begünstigt ist, dass endlich etwas geschieht, das nicht zu Trauer und Traurigkeit führt, dass endlich ein Silberstreifen am Horizont auftaucht, sogar einer aus Gold. Tina starrt mit glänzenden Augen auf das Herz aus Gold, wiegt es in ihrer Handfläche hin und her. Als sie die Straße überquert, sieht sie das Auto nicht, das sich viel zu schnell nähert, und Felix, der Fahrer des Autos, sieht seinerseits Tina nicht, weil er eine Nachricht in sein Smartphone tippt. Als die Stoßstange seines Autos auf Tina trifft, wird sie auf die Motorhaube und dann zu Boden geschleudert, wobei das Herz aus Gold aus ihrer Hand fällt. Die Kette landet auf dem Asphalt, nahe am Rand des Gehsteigs, und bleibt dort liegen, bis jemand das Herz aus Gold findet.

Wow!
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Danke!
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oh, warum hat Anna es auch wieder verloren. Ich weiß ja, sie hat zur Zeit viel Streß, den sie sich zum großen Teil auch selbst macht (wenn die anderen gerade mal nicht dazu kommen
*g*), aber daß sie nun schon so schusselig ist und eine Kette von Unglücklichkeiten entstehen läßt, das hätte ich nun doch nicht geglaubt . Ach, Anna…
Oder haben wir es doch Dir zu verdanken, lieber Disputnik?
Liebe Grüße von Bruni, die halt eine Freundin mit dem Namen Anna hat *lach*
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Entschuldige, liebe Bruni, dass ich den Namen deiner Freundin für die Geschichte missbraucht habe 😉
Sie hatte es aber in der Geschichte immerhin besser als Tina…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse…
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Das wäre ein toller Stoff für einen Kurzfilm…
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Ohja, das wär schön, so ein Film… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Da hast Du wieder lauter seltsame Zufälle miteinander verdisputnikt. Das kannst Du einfach. Unglück geschieht durch Unachtsamkeit, besagt eine der goldenen Kampfsport-Regeln, die sich so prima ins alltägliche Leben übernehmen lassen, quasi mehrzweckfunktional. Tja, so ein Herz aus Gold braucht eben auch Aufmerksamkeit. Wenn es nur ein Mittel zum Zweck ist, wird es verloren werden oder sonstwie entschwinden und einen achtsameren Besitzer suchen. Da sage nochmal wer, Dinge seien unbeseelt…
Zufall ist eine Erfindung der Menschen um Magie nicht erklären zu müssen mit dem Winzigen Denkwerkzeug, das sie üblicherweise als ihren ‚Verstand‘ zu bezeichnen pflegen.
Feiner Lesegenuss,
Liebe Grüße von der Fee
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Ohja, wenn das Herz aus Gold nur Mittel zum Zweck ist, geht es wohl verloren, früher oder später. (Und wenn Unglück durch Unachtsamkeit geschieht, geschieht dann im Umkehrschluss das Glück aus Achtsamkeit?)
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deinen wie immer wunderbar reichen Kommentar und für das Verdisputniken und überhaupt… Herzliche Grüsse zurück!
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Nicht alle Umkehrschlüsse funktionuckeln, aber dieser hier schon…meine ich…also…
ich vertuworte gern Deinen Namen, wenn es um Erzählkunstreichtum geht, denn das Wort ist erstens zu lang und trifft zweitens nicht den ganzen Pudel in den Text-Kern, da steckt der Engel zu tief im Detail.
Herzliche Grüße zurück und immer eine gute Muse zur Seite✨
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Oh, schön, dann freut’s mich umso mehr… Vielen lieben Dank nochmals und herzliche Grüsse…
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