Sie ist durchaus nicht empfindlich oder zimperlich. Sie kann es gut ertragen, wenn jemand rülpst oder geräuschvoll den Rotz durch die Nasenhöhlen schleift. Im Gegensatz zu vielen ihrer Freundinnen stört es Eva nicht besonders, wenn ein Mann ausspuckt. Und grundsätzlich findet sie auch Flatulenzen keineswegs verwerflich. Menschen furzen. Das ist natürlich, ein biologischer Prozess, ganz normal. Sie selbst tut es ja auch. Zwar nimmt sie Rücksicht, das gebietet der Anstand, sie versucht, nicht aufzufallen, aber gerade, wenn man sich kennt, darf Gas entweichen, ohne dass man die Nase rümpfen muss, findet Eva. Umso mehr erschüttert es sie, wie heftig sie reagiert, als Adam furzt.
Sie sind seit einigen Monaten das, was man gemeinhin ein Paar nennt. Zu Beginn war sie verliebt, ziemlich leidenschaftlich sogar, und mit der Zeit sah sie sich mit der Frage konfrontiert, ob aus diesem Verliebtsein wohl Liebe werden könnte. Eine Frage, die Adams Furz vielleicht bereits beantwortet hat.
Der Furz, er ereignete sich nach dem Abendessen. Sie saßen gemeinsam auf der Couch in ihrer Wohnung, starrten in die blitzenden Bilder des Fernsehers, als Adam sich leicht zur Seite neigte. Es war ein merkwürdig hoher Ton, es klang wie das Stöhnen eines erkälteten und sehr kleinen Mannes. Im ersten Momente grinste Eva, doch bald erschlafften die Muskeln im Gesicht; die kindliche Freude über das überraschende Geräusch verblasste und machte einem unangenehmen Gefühl Platz. Es war keineswegs das erste Mal, dass sie Adams Flatulenzen wahrgenommen hatte. Doch dieses Mal war schlimm. Sie fühlte sich nicht gestört oder peinlich berührt, auch nicht lediglich angeekelt. Sie fühlte sich betrogen. Eine tiefe Ernüchterung griff um sich, gerade so, als hätte sie von einem geliebten Menschen eine Ohrfeige erhalten.
Als sie später an jenem Abend nebeneinander im Bett lagen und Adam sich ihr mit eindeutigen Absichten näherte, ließ Eva ihn gewähren. Als er ihre Brüste küsste, tat sie so, als wäre es ihr eine Freude. Und während er keuchend und zuckend auf ihr lag, dachte sie an das Stöhnen eines erkälteten und sehr kleinen Mannes und spürte, wie sich ihre Augenwinkel allmählich füllten.
In jenem Moment konnte sie ihre Gedanken gar nicht richtig sortieren, alles in ihr war in Aufruhr. Zu absurd schien es ihr, dass ein einziger Furz eine solche verheerende Wirkung haben könnte. Doch es war nicht von der Hand zu weisen, dass die besagte Flatulenz etwas ausgelöst hatte. Natürlich war es weder das Geräusch noch der Geruch. Und vielleicht hätte es genauso gut ein Rülpsen oder ein falsches Wort sein können, eine unterlassene Handlung oder eine merkwürdige Geste, die Folge wäre die gleiche gewesen. Nun war es eben dieser eine Furz.
Er hallt nach, der Furz. Und das Echo rauscht in ihren Ohren, als Eva am frühen Morgen am Küchentisch sitzt, während Adam noch schläft. Sie fragt sich, ob es an ihr liegt. Ob sie aus jedem Furz ein Drama machen muss. Oder ob nicht jedes Drama einen Furz braucht, um stattfinden zu können. Sie lässt ihre Handfläche über den Tisch gleiten, schiebt unsichtbare Krümel weg. Dann steht sie auf und beginnt, Dinge einzusammeln, die eigentlich Adam gehören und die er in den vergangenen Monaten in ihrer Wohnung liegengelassen hat. Sie schaut aus dem Fenster in den immer heller werdenden Tag, betrachtet Baumwipfel und die Kanten der nahen Häuser. Später geht sie auf den kleinen Balkon ihrer Wohnung, atmet die frische Luft ein, spürt die zunehmende Wärme auf ihrer Haut. Und wartet darauf, dass Adam aufwacht.

Wahre Liebe war es nicht.
Kunstvoll geschildert.
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Sie mochte ihn einfach nicht mehr. Und jetzt wußte sie es ganz genau.
Er entsprach einfach nicht ihrer Vorstellung vom Mann, den sie lieben konnte.
Er wird aus allen Wolken fallen 🙂 Noch weiß er ja nichts …
Liebe Grüße von Bruni
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Oh ja, es dürfte ein relativ unsanftes Erwachen geben…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni… Herzliche Grüsse zurück….
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Vielleicht war Adams unbeherrschtes Gasentweichungsmanöver lediglich die Aktion, lieber Disputnik, die bei Eva das berühmte Fass zum überlaufen brachte,
insbesondere was die sexuellen Duette der beiden so angeht?!
Liebe Frühlingsgrüße vom Finbar
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Ich denke, genau so war’s, lieber Finbar, manchmal braucht’s nur eine Kleinigkeit, einen kleinen Furz eben, und alles (oder vieles) fällt in sich zusammen…
Herzliche Grüsse zurück und schönes Wochenende dann…
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Die Liebe ist eben nur zu oft bloß ein Kartenhaus…
Herzliche Grüße zur Nacht vom Finbar
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