Mitten in der Nacht wacht sie auf, gerät in einen Dämmerzustand und hat das Gefühl, dass jemand neben ihr liege. Es ist nicht unangenehm, dieses Gefühl, doch als sie realisiert, dass es eigentlich gar nicht möglich ist, dass jemand bei ihr im Raum ist, zuckt sie zusammen und reißt die Augen auf. Sie blinzelt in die Dunkelheit, ihr Herz schlägt so laut, dass ihr Körper dröhnt. Dann schaltet sie das Licht ein.
Einige Minuten liegt sie noch wach und denkt an die Leerstelle neben ihr im Bett, an die Leerstelle in ihrem Leben, denkt vor allem an den Menschen, der diese Leerstelle hinterlassen hat. Sie hat sich an die Kälte auf der anderen Seite des Bettes gewöhnt, hat sich daran gewöhnt, nur noch eine Tasse Tee aufzubrühen, hat sich daran gewöhnt, beim Ausfüllen von Formularen ein Kreuz bei verwitwet zu machen, hat sich an die Stille gewöhnt. Doch nur weil man sich an etwas gewöhnt hat, heißt das nicht, dass es nicht mehr schmerzt.
Als sie am nächsten Morgen erwacht, ist es draußen bereits hell, sie hat länger geschlafen als üblich. Sie steht auf, macht sich einen Kaffee, geht ins Wohnzimmer und setzt sich an den kleinen Tisch. Vor dem Fenster liegt der Schnee der letzten Tage noch immer dick und still über den Dingen. Sie nippt an ihrem Kaffee und lässt ihren Blick schweben, von den nahen Hausdächern über die Straße bis zum fernen Waldrand, vom kahlen Himmel über die Tanne vor dem Haus bis zum eisernen Gartentor des Nachbarhauses. Sie mag den Winter, zumindest dann, wenn er kalt und weiß ist. Sie mag das Schweigen, das sich über die Landschaft legt. Die Illusion von Ruhe und Frieden.
Als sie die Spuren im Schnee bemerkt, wundert sie sich, dass sie ihr nicht schon vorher aufgefallen sind. Sie führen direkt zu ihrem Haus hin oder davon weg, die Laufrichtung lässt sich nicht feststellen, doch es sind zweifellos Fußspuren menschlichen Ursprungs. Sie folgt den Schritten von ihrer Haustür durch den kleinen Vorgarten, dunkle Löcher in der ansonsten unversehrten Schneedecke. Nach ihrem Gartentor werden die Fußspuren allmählich kleiner, je weiter sie sich entfernen, über die große Wiese, hin zur mächtigen Eiche, die auf der kleinen Anhöhe steht. Doch die Spuren kommen nicht beim Baum an. Mitten auf der Wiese reißen sie ab. Gehen nicht weiter, gehen nicht zurück, hören einfach auf. Sie blinzelt, verschluckt sich beinahe am Kaffee und steht auf. Mit konzentriertem Blick starrt sie auf die Stelle auf der Wiese, an der die Spuren enden. Einige Minuten lang ist sie unfähig, etwas zu denken. Dann kommen die Gedanken, in Strömen und Sturzbächen, rauschend und dröhnend.
Später wird sie nach draußen gehen, wird den Spuren nachgehen bis zur Mitte der Wiese, wird sich weiter wundern und den unförmigen Brocken im Hals spüren. Sie wird an die vergangene Nacht denken und wird sich Tränen aus dem kalten Gesicht wischen. Sie wird sich in den Schnee knien und sich fragen, ob sie irgendeine merkwürdige Kraft spürt, ob sie lediglich friert oder aus einem anderen Grund zittert. Sie wird wieder ins Haus zurückkehren und aus dem Fenster schauen, wird sich im Badezimmer kaltes Wasser ins Gesicht schütten. Sie wird sich eine Tasse Tee aufbrühen und wieder ins Wohnzimmer zurückkehren, wird immer wieder auf die Fußspuren starren. Irgendwann, spätestens in einigen Tagen, werden keine Spuren mehr zu sehen sein. Und trotzdem wird sie weiterhin wissen, an welchem Punkt die Schritte endeten.

Es klingt sehr geheimnisvoll, was ich hier lese. War es wirklich nur die Hoffnung, die sie sehen und fühlen ließ? Ich glaube, die Hoffnung braucht keine Fußspuren zu hinterlassen.
Passt eines zum anderen? Fußspuren, die abrupt mitten in der Wiese endeten und ihrem Gefühl in der Nacht in ihrem Schlafzimmer?
Ich sage jetzt auch: höchst mysteriös
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Ich mag (nicht alle, aber manche) Mysterien mitunter sehr gern, liebe Bruni…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse…
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Schmerzhaft eindringlich und fühlbar machst Du die Einsamkeit eines Menschen, der trotz besseren Wissens und Verstandes das Hoffen niemals sein lassen kann irgendwo das Verlorene wiederzufinden. Immer wieder enden Lebensspuren abrupt. Der Schnee macht sie nur sichtbarer.
Liebe Grüße zu Dir von der Fee
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Ja, und manchmal braucht’s nicht mal den Schnee, um die Spuren zu sehen, zu spüren…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück…
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Jemanden zu vermissen, der einstmals viele Jahre lang neben einem im gleichen Bett lag, gehört sicherlich zu den schwierigen Situationen des eigenen Lebens…
Einfühlsam geschrieben, lieber Disputnik…
Herzliche Wintergrüße vom Finbar
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Zweifellos, ja… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herzlichste Grüsse zurück…
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Sehr gerne ☺
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Wieder ein toller Text, einfühlsam geschrieben, mysteriös und berührend.
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Vielen lieben Dank dir, und herzliche Grüsse…
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