In seinem Kinderzimmer hingen Poster an der Wand, Bilder von Queen und Kim Wilde und den Blues Brothers, immer wieder andere Gesichter, stetig wechselnde Idole an drei Wänden seiner kleinen Welt. Die vierte Wand war keine Wand, sondern die Fensterseite, mit drei gleich großen Fenstern, und dort waren keine Popstars zu sehen. Dort stand ein Berg. Der Berg war kilometerweit entfernt, dennoch bestimmte er das Bild, das sich in den drei Fenstern zeigte. Andere Dinge wirkten größer, waren näher und bunter und heller, doch wenn er aus dem Fenster blickte, sah er stets zuerst den Berg. Er prägte sich ein, brannte sich in seine Netzhaut ein. Der Berg, er war untrennbar verbunden, mit seinem Kinderzimmer, mit seiner kleinen Welt.
Mit der Zeit geriet einiges aus den Fugen, darunter auch sein Kinderzimmer. Die Familie zog um, zunächst in ein anderes Wohnviertel, dann in eine andere Stadt. Er bekam ein anderes Kinderzimmer, ohne Berg. Doch der Berg blieb präsent, in seinem alten Kinderzimmer, in seiner alten kleinen Welt. In seinem Kopf.
Er war längst erwachsen und arbeitete als Parkettverleger, als ihn ein Auftrag zu einer Adresse führte, die er nur zu gut kannte. Das Zimmer, sein altes Kinderzimmer, sah natürlich ganz anders aus als früher, war zum Arbeitszimmer umfunktioniert worden. An den Wänden hingen keine Poster von Queen und Kim Wilde und den Blues Brothers, sondern zwei Katzenbilder von Rosina Wachtmeister. Es sah sehr merkwürdig aus, und umso mehr freute er sich auf den Berg. Doch als er aus dem mittleren der drei Fenster blickte, war kein Berg zu sehen. Nicht einmal ansatzweise. Nicht einmal ein Fragment davon. Der Berg war verschwunden. Er sah Häuserfassaden, Stromleitungen, Straßenlaternen, Bäume. Er sah den Himmel. Aber keinen Berg.
Er war froh, dass er gerade alleine im Zimmer war. Er hätte keine Lust gehabt, seine Tränen zu erklären. Als sein Arbeitskollege zu ihm stieß, hatte er sich zumindest ein wenig gefangen.
Ach, ich hasse diese Katzenbilder, schnaubte sein Arbeitskollege verächtlich.
Ich mag sie auch nicht, gab er zurück.
Sonst ist’s ein schönes Zimmer.
Ja. War mal mein Kinderzimmer.
Echt? Du hast hier gewohnt?
Ja.
Und, sieht’s noch gleich aus wie früher?
Nein. Es ist anders. Alles ist anders. Der Berg ist weg.
Der Berg ist weg?
Ja.
Okay.
Ja.
Sie standen da, zwischen den Katzen von Rosina Wachtmeister. Draußen rannten die Sekunden ungebremst durch die Welt. Irgendwann knarrte eine Diele. Er räusperte sich.
Na los, machen wir uns an die Arbeit. Wir haben nicht viel Zeit.

Ich habe schon lange Zeit Angst, daß die Gärten um mich herum zugebaut werden könnten…
Dein Text zeigt so gut, wie sich etwas zum Negativen verändert, was unserer Kindheit doch einen unvergleichlichen Charme verlieh. Das Erwachen schmerzt dann sehr.
Herzlichst Bruni
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Umso schöner, wenn man sich die Bilder, die Welt der eigenen Kindheit im Innern zu bewahren vermag, so gut es geht… Vielen Dank dir fürs Lesen und deine Worte, liebe Bruni, und herzliche Grüsse zurück…
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Fein dokumentierte Veränderungen der Welt, auch im lokalen…
das globale Dorf wird gegeneinander zubetoniert!
Liebe Wintergrüße vom Finbar
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Ja, die Freiflächen fürs Auge (und Gefühl) werden immer weniger und seltener… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herzliche Wintergrüsse zurück…
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Alles wird zugebaut,
die Umgebung,
das Umfeld,
die äußere Welt,
und dadurch auch die innere…
Liebe Morgengrüße vom Lu
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Einmal mehr toll erzählt!
Als Nostalgiker zieht es mich immer mal wieder an „alte“ Orte zurück. Und oft suche auch ich vergeblich nah dem, was meine Erinnerung emotional geprägt hat. Nicht weil es nicht mehr da wäre, sondern weil ist nicht mehr in der gleichend Bedeutung erscheint.
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Absolut, ja. Herz und Bauch scheinen sich mitunter anders zu erinnern als der Kopf… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken!
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Das nenne ich … ja, wie denn? Eine Erkenntnis auch, daß etwas äußeres, weit entferntes zum Inneren dazugehören kann.
(Der Text begeistert mich gerade wirklich.)
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(Dein Kommentar freut mich gerade wirklich.) Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Begeisterung…
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