Er steht neben dem toten Körper. Das Wort Leiche widerstrebt ihm. Es wirkt so leer, so unpersönlich. Es klingt wie etwas, das nicht mehr funktioniert. Natürlich trifft dies eigentlich auch zu. Trotzdem möchte er den toten Körper nicht Leiche nennen. Auch wenn es nur eine Taube ist. Nur eine Taube. Nur.
Die Beine ragen wie dürre Zweige aus dem Bauch. Der Wind lässt eine einzelne Feder sanft beben, wie eine kleine Fahne, ein Signal zum Abschied. Einen Moment lang ruht die gesamte Erschütterung der Welt in diesem kleinen toten Körper.
Als er aufblickt, sieht er ein merkwürdiges Fahrzeug vorüberfahren. Ein Kombi von Mercedes-Benz, lang und grau und leise, im hinteren Teil ein großes Fenster, blickdicht abgedunkelt. Ein Leichenwagen. Er wundert sich, warum ihn das Wort Leiche in diesem Zusammenhang nicht irritiert. Und er fragt sich, ob er tatsächlich schon seit solch langer Zeit keine Leichenwagen mehr gesehen hat. Oder ob sie ihm einfach nicht aufgefallen sind.
Er bückt sich und betrachtet den toten grauen Körper. Nur eine Taube. Wann verschwindet das Nur in der Regel? Und wann schleicht es sich ein? Er denkt an die Toten seiner Welt. An die leeren Winkel in der Zeit, an die Unerbittlichkeit. Er erinnert sich an Stellen in den Geschichten, eingefrorene Momente, an die Bilder im eigenen Museum. Da ist kein Nur. Hier kommt es nicht rein, niemals.
Irgendjemand wird kommen und den toten Körper entfernen, mit einer Schaufel vielleicht, oder mit einer gleichgültigen Hand, nackt oder in Handschuhe gehüllt. Dann wird nur noch der Asphalt bleiben, kalt und grau und leer. Und während er weitergeht, verspürt er eine gewisse Melancholie, eine Schwere, doch er fühlt sich zumindest nicht ärmer als zuvor. Es war nur eine Taube. Aber nur ist nicht nichts.

nein, NUR ist nicht nichts! Es ist viel, bedeutet so viel und noch mehr.
Es liegt eine Welt darin, eine Weltanschauung
Eine Leiche? oh, oh, ein Wort, das ich auch nicht mag, weil es das nicht mehr Vorhandene allzu deutlich macht und das wollen wir nicht. Es soll etwas bleiben, bitteschön, aber es ist nicht mehr da und unser Suchen nutzt nichts, es ist alles vorbei und verschwunden, was war und wir sollen es verstehen und wir können es nicht…noch nicht, vielleicht irgendwann einmal…
Ein irre guter Text, lieber Disputnik
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Ja, das Verstehen, es gelingt wohl stets nur zum Teil. Im Akzeptieren vielleicht, im Erkennen.
Mir fällt grad auf, wie gut mir das Wort Weltanschauung gefällt. Vielen Dank dafür, und für all die anderen Wörter, liebe Bruni…
Herzliche Grüsse…
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Großartig!
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Herzlichsten Dank!
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