Ein Mann fährt allein in seinem Mitsubishi auf der Autobahn, als er ein anderes Fahrzeug überholt, an dessen Steuer ein Mann sitzt, der genau gleich aussieht wie er, zumindest der Kopf und das Gesicht scheinen identisch; sogar der leichte Knick im Nasenrücken ist da, und während sich die Blicke der beiden Männer treffen, gerät der Mitsubishi aus der Spur.
Eine Frau räumt einen Kleiderschrank aus, faltet jeden Pullover auseinander, streicht jedes Hemd glatt; hin und wieder wischt sie mit dem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel, dann gräbt sie ihr Gesicht in ein T-Shirt, sucht nach einem Geruch, seinem Geruch, und findet nur diesen leeren Duft der Sauberkeit, diese verdammte Frühlingsfrische.
Zwei junge Frauen beobachten einen Mann, der verzweifelt versucht, eine widerspenstige Haarsträhne, die lustig im Wind tanzt, zu bändigen, und während er sich immer wieder die Finger ableckt, um mit dem Speichel ein wenig Halt ins Haar zu bringen, blicken sich die zwei jungen Frauen an und verharren einige Sekunden, bevor sie in prustendes Gelächter ausbrechen.
Drei Jungen stehen am Zaun bei einer Wiese, einer von ihnen wird von den beiden anderen an die Holzlatten gedrängt, sie reden mit böse funkelnden Augen auf ihn ein, und irgendwann spuckt einer der beiden dem bedrängten Jungen ins Gesicht; der Speichel rinnt zäh über die Wange, vermengt sich mit einigen Tränen, und im Hintergrund schaut eine Kuh gelangweilt zu.
In einem Krankenhauszimmer sitzt ein Mann auf dem Bett, die Augen glasig, die Schultern hängend, alles an ihm ist müde; er blickt aus dem Fenster auf die fernen Hügel, als plötzlich ein kleiner Vogel auf dem Fenstersims landet und ins Zimmer schaut, und der Mann beobachtet den Vogel, der Vogel beobachtet den Mann, beide neigen den Kopf ein wenig, und dann fliegt der Vogel wieder fort.
Eine alte Frau sitzt auf einem Stuhl und starrt ins Nichts, der Tee auf dem Tisch ist längst kalt geworden, doch es spielt sowieso keine Rolle, ob sie ihn trinkt oder nicht, es geht nicht mehr ums Teetrinken, nur noch ums Abwarten, und sie weiß gar nicht, wann es begonnen hat, das Warten, die Zeit dehnt sich weiter, immer weiter, bis sie irgendwann zerreißt, hoffentlich.
Ein junges Mädchen, vielleicht fünfzehn Jahre alt, steht in Unterwäsche gekleidet in ihrem Zimmer, blickt in den großen Spiegel und streicht sich über den Bauch, hält die flache Hand über den Nabel, als warte sie auf eine Reaktion; die Augen zucken hin und wieder, während ein Schatten der Angst und Ungewissheit ihren Blick trübt.
Zwei Männer sitzen sich gegenüber, beide starren auf die Tischplatte, klammern sich an ihr Bierglas, einer raucht eine Zigarette, hin und wieder schaut einer der beiden auf und prüft, ob der andere ebenfalls aufschaut, dann senkt sich der Blick wieder, und irgendwann räuspert sich einer, gerade so, als wolle er etwas sagen, doch er schweigt weiter und trinkt sein Bier.
Eine Frau starrt auf die einzelnen Teile eines Telefons, die auf dem Boden liegen, und das Echo der Stimme, die sie soeben gehört hat, wird allmählich vom Rauschen verschlungen, das alles auszufüllen beginnt, und ihre Lippen formen jenes bösartige Wort, doch auch das geht unter im Rauschen, alles versinkt und versickert, und dann lacht sie kurz und bitter, als sie sich fragt, ob sie überhaupt ein neues Telefon kaufen soll.

o, diese Miniaturen gefallen mir! (Bin hier erstmals durch karfunkelfee gelandet).
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Herzlichen Dank fürs Landen und für die Worte!
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Ausdrucksstarker Minimalismus. Find ich sehr gelungen! Danke!
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Freut mich sehr! Vielen lieben Dank dir!
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Es klingt nach Alltäglichem, ach nein, nicht ganz, es klingt nach Augenblicken, von denen Du kurz die Oberfläche anreißt, in denen etwas geschieht, geschehen ist oder auch gleich geschehen wird.
Das Leben hält seine Palette der Gefühle parat und es kann ganz und gar bösartige oder auch heimtückische Spiele spielen… Es nutzt geeignete Momente und dann schlägt es zu… irgendwie…
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Ja, das Leben besteht aus unzähligen Augenblicken, und manche davon sind wohl tiefschürfender als andere…
Vielen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte…
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