Die Rollen sind klar verteilt. Man hat unter anderem die Aufgabe, bei Bedarf Kleider an Bewohner der Flüchtlingsunterkunft abzugeben, strikt nach Anweisung durch die Zentrumsleitung. Er braucht eine Hose und ein Shirt oder Hemd und wurde deshalb in den Raum geschickt, den sie hier Boutique nennen.
Sein Name ist Amadou. Seine Haut ist tiefschwarz, die Haare sind kurz geschoren, die Nase ein wenig krumm. Er ist mindestens zwei Meter hoch, seine Stimme ist tief und scheint im Bauch zu wurzeln. Er ist nicht mehr ganz jung, geschätzte vierzig Jahre alt, Falten und Furchen zeichnen ein wildes Muster auf sein Gesicht. Sein Heimatland ist die Côte d’Ivoire, doch nun ist er hier, und eben, er benötigt eine Hose und ein Shirt oder Hemd.
Das Oberteil ist schnell gefunden, ein violettes Hemd, es steht ihm gut, und während er es zuknöpft, lächelt Amadou mit Wärme im Blick und schaut stolz auf seine Brust hinunter. Very nice, sagt er und lächelt noch herzlicher, und man lächelt mit, freut sich über diesen Moment. Dann sucht man gemeinsam mit ihm nach einer passenden Hose.
Die erste, die man aus einem der unordentlichen Stapel zieht, ist ein hellblaue Jeans. No good, meint Amadou und blickt beinahe vorwurfsvoll, gerade so, als würde er es verübeln, dass man ihm diese Hose überhaupt angeboten hat. Auch die nächste Hose, die man ihm zeigt, gefällt ihm nicht. Too big. Die nächste, eine schwarze Jeans, hält er prüfend vor sich hin. Dann legt er den Hosenbund um seinen Hals, misst den Umfang. Too small, erklärt Amadou und schüttelt den Kopf.
Hose um Hose schlägt man ihm vor, der Stapel der abgelehnten Stücke wächst immer höher. Das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht, die Augen kühlen ab. Und allmählich, nach zehn Minuten vielleicht, wird man ungeduldig, denn da warten noch andere Personen vor der Tür, und überhaupt, man möchte irgendwann zu einem Ende gelangen. Obwohl man sich dagegen sträubt, tauchen Gedanken im Kopf auf. Nimm doch einfach eine Hose, möchte man Amadou sagen. Sei doch mal zufrieden, schließlich erhältst du die Hose geschenkt. Man schweigt natürlich, schiebt den Gedanken zur Seite, findet ihn ziemlich unangebracht. Trotzdem ist man missmutig und erklärt Amadou, dass er ja ein paar Tage später nochmals nachschauen kommen könnte, vielleicht seien bis dahin neue Kleider eingetroffen und eine passende Hose für ihn dabei. Dass man nicht weiß und auch nicht glaubt, dass demnächst Kleiderspenden geliefert werden, sagt man nicht.
Amadou ist enttäuscht, nimmt sich noch ein T-Shirt vom Stapel und geht mit gesenktem Blick aus dem Raum. Wahrscheinlich knallt er die Tür nicht absichtlich zu, aber es klingt irgendwie so, der Nachhall verharrt in den Gehörgängen. Man kaut auf der Unterlippe, bis es klopft und der nächste Flüchtling neue Kleider möchte.
Erst Stunden später findet man die notwendige Distanz und den Raum, um zu reflektieren. Man denkt über die Ungleichheit nach, über Asymmetrie, über die eigene Privilegiertheit, über Glück und Unglück und Angst und Wut. Man denkt an die Dinge, die man sich höchstens ausmalen kann; an den Verlust jeglicher Heimat, an die gekappten Verbindungen, an das Ausgeliefertsein und an den Umstand, dass alles, was man besitzt, in eine Plastiktüte passt. Und man denkt an Stolz und Würde, diese Begriffe, die man immer wieder falsch versteht oder nicht zu deuten weiß.
Am nächsten Tag räumt man die Betten der Bewohner, die abgereist sind. Auf einem Bett liegt ein violettes Hemd, das jemand zurückgelassen hat, man erkennt es sofort. Und während man es in den Händen hält, sieht man die Augen von Amadou vor sich, während er auf seine Brust hinunterblickt. Very nice, sagt er. Und man fragt sich, ob man vielleicht eine passende Hose gefunden hätte, wenn man einige Minuten länger gesucht hätte.

nein, es ist keine Schande, Flüchtling zu sein, so schreibt die Fee, aber in dieser aktuellen Situation sieht er es nicht so abgeklärt und vernünftig (ist es vernünftig?, vielleicht ZU vernünftig? u. in einigen Jahren erst kann ER es auch erkennen) .
Er ist mittendrin, noch nicht angekommen und braucht doch schon Kleider. Dabei hat seine See noch gar kein Kleid, noch ist sie nackt und bloß, aber für sie findet er kein Hemd und keine Hose, vielleicht ist er deshalb so wählerisch, weil er etwas fühlt, von dem er nicht weiß, was es ist…
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Ja; nicht zu wissen, was man fühlt, nicht zu wissen, wo man steht, geografisch, gesellschaftlich, emotional; eine allgegenwärtige Orientierungslosigkeit, die wohl nicht so leicht nachzuvollziehen ist…
Herzlichen Dank dir, liebe Bruni, für deine Worte…
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Der ungleiche Tausch völlig überzogener Ansprüche gegen ausgelieferte Not und Besitzlosigkeit.
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Ja, ungleich auf jeden Fall… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und liebe Grüsse…
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so einfach ist das nicht…
darin steckt doch all das und noch mehr, was in Disputniks gutem Text an Gedanken schon vorhanden war – Stolz, Würde und der Wunsch, alles wäre änders… vielleicht sogar Frust am Ende, Resignation – das Hemd bleibt zurück…
Schwierige Kiste das alles. Verstehen auf beiden Seiten wird arg strapaziert.
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Nein, so einfach ist’s eben nicht. Und vielleicht ist’s grad diese Komplexität, die uns manchmal überfordert…
Herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte!
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Wir sind alle erst mal überfordert. Er, wir, sie… Er muß ankommen, erkennen, wo er ist und das er immer noch jemand ist. Aber hier ist alles so anders, ganz und gar fremd und auch uns ist er fremd… Dankbar wird er irgendwann sein, wenn er angekommen ist… irgendwann. Es sieht nur so aus, als sei er da… Ach, verdammt
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Hmmja, das Ankommen ist mitunter eine schwierige Sache, und er ist wohl noch ziemlich weit davon entfernt…
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Das stimmt, da steckt so vieles mehr darin…
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Ich kenne das. Zu groß, zu klein, falsche Farbe, Loch drin oder Pilling dran, das Stück sieht getragen aus. Und doch nehme ich es gern, denn es ist funktional und zweckmäßig. Es ist nicht der neueste Trend im Shit von der Kleiderstange in der Boutique der Kleiderkammer. Es steht nicht mal ein Markenname drin. Doch es erfüllt einen Zweck, nämlich meinen und das für ganz ganz wenig Geld. So kann ich den Kindern auch noch was Schönes mitnehmen und gehe für 10 Euro mit einer kompletten Garderobe für uns drei (eine Große, zwei Kleine) in einer gespendeten großen Einkaufstüte nach Hause. Ich danke sämtlichen Leuten, die das spendeten und die Mitarbeiter nehmen sich Zeit in dieser Kleiderkammer, die ehrenamtlich engagierten Leute, die dort ihre Freizeit verbringen um Käufer zu beraten, ihnen zu helfen. Sie nehmen sich Zeit, doch ich weiß: Es warten noch andere. Auf meine Umkleidekabine, auf die Dame, die Tipps gibt, wenn eine Hose nicht richtig passt. Hosenkauf ist eh schwierig. Mitnehmen, zu Hause probieren und wiederbringen ist auch kein Problem. Habe ich auch gemacht. Das beiderseitige Bewusstsein ist da. Von den Leuten in der Kleiderkammer (ich helfe Dir, bitte bedenke, dass auch noch andere warten) und von mir, derjenigen, die am Ende am meisten profitieren darf. Die Stunden des Kleidersortierens, in die richtige Größe einordnen, an Stangen hängen, auswählen…zurücklegen, die Verwaltungsarbeit, all das kostet mich 10 Euro. Hilfe ist nicht selbstverständlich. Jedenfalls nicht in dem Sinn, das man sie mit Füßen tritt. Ich muss keine Sprache beherrschen, um mich zu freuen, wenn man mir hilft. Das kann ich zeigen, indem ich einfach mal nicht so wählerisch bin. Doch ich bin natürlich kein Flüchtling, sondern ich war mal bedürftig, wie man es so schön in Deutschland betitelt. Liebe Grüße
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Nein, Hilfe ist nicht selbstverständlich, und Dankbarkeit ist wohl einer schönsten Wesenszüge, welche der Mensch aufweisen kann. Doch vielleicht sind die Dinge in manchen Situationen auch nicht einfach nur mit dem Wählerisch-Sein erklärt, manchmal geht es nicht um irgendwelche Ansprüche oder dergleichen, und Menschen wie Amadou dürften ihre Lektionen in Demut wohl zur Genüge gelernt haben…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken, und liebe Grüsse zurück…
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Ich frage mich gerade ob Dankbarkeit ein Wesens-Zug ist…hm…also falls ja, dann in manchen Fällen vielleicht einer, der sich erst erarbeitet werden muss…ich gehöre zu denen. Ich war schon ganz schön unzufrieden und haderte. Dann fiel es mir sehr schwer, Hilfe anzunehmen. Doch irgendwann konnte ich es. Und heute ist Zufriedenheit gleich Lebensqualität.
Den Flüchtlingen wird werweißwas von den Schleppern erzählt. Ihnen ist kein Vorwurf zu machen, wenn das so ist und zu keiner Zeit würde ich die Bescheidenheit oder Demut dieser Menschen die gezwungen sind ihre Heimat zu verlassen, in Frage stellen. Ich habe Freunde, die selbst Flüchtlinge waren. Sie haben mir erzählt, wie schwer es für sie war, die fremde Sprache zu lernen und sich den neuen Gepflogenheiten des Gastlandes anzupassen. Sie haben Diskriminierung erfahren, sie wurden mit Fremdenhass konfrontiert. Als sie hier in Deutschland ankamen, waren sie froh dass sie mit dem Leben davon gekommen waren. Es war so knapp gewesen. Solche Menschen begegnen mir hier auch. Es gibt solche und solche… Es gibt die, die mich mit dem Zettel in der Hand fragen, ob ich ihnen helfen kann. Ich spüre ihre Unsicherheit und ihre Angst. Sie stellen Fragen mit Händen und Füßen, Weil sie unsere Sprache noch nicht beherrschen. Teilweise erzählen sie fürchterliche Geschichten. Wenn ich mal jemanden begegne, der meine Sprache oder Englisch oder Französisch so verständlich spricht, dass ich ihn verstehen kann und wir miteinander reden können. Leider ist das nur sehr selten der Fall… Meistens sind sie mit ihrer Sprache lost in Translation…
Es sind manchmal ganz spezielle Dialekte. Das haben mir ehrenamtliche Helfer erzählt. Es gibt Flüchtlinge, die einfach froh sind, wenn sie das bekommen, was sie zum Leben brauchen. Dankbar, will ich gar nicht mal sagen. Zufrieden ganz sicher auch nicht. Doch es ist etwas, das man erst einmal benutzen kann.
Es ist funktionell, vielleicht nicht so schön. Nun ist Amadou ein junger Mann. Ich schätze ihn so ein, dass er ganz sicher noch Träume im Herzen hat und schön aussehen möchte. Er benimmt sich für mein empfinden sehr jugendlich…
Und ja, es ist sogar sehr schade, dass sich niemand etwas mehr Zeit für ihn genommen hat. Damit er das Gefühl hat, dass jemand Zeit für ihn hat. Ihn ernst nimmt, ihn respektiert und achtet.
Leider gibt es manchmal zu wenig ehrenamtliche Helfer… Es ist einfach ein großes Problem…
Es gibt so viele Amadous…
(Wunderschöner Name)
Lieben Gruß und Dank für diesen Meinungsaustausch. Ich finde ihn sehr gut…
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Zufriedenheit gleich Lebensqualität, oh ja, in vielerlei Hinsicht…
Dass manche lost in translation sind, ja, absolut, die wenigen englischen Brocken reichen grad noch zum Leben; und allein darin liegt (manchmal) eine enorme Einsamkeit, Verlorenheit…
Vielleicht ist’s in jeder Hinsicht schon mal sehr viel wert, wenn man nicht in erster Linie in Kategorien denkt. Wenn man anerkennen mag, dass es nicht den Flüchtling gibt, nicht die Einheimische, nicht die Helferin, nicht den Skeptiker. Sondern halt einfach Menschen.
Ja, es gibt viele Amadous. Und es gibt viele Werners und Annas und Peters. Und miteinander ist’s in der Regel schöner als gegeneinander.
Liebe Grüsse zurück und schönen Abend dir…
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Du benennst etwas, das im Grundgesetz steht: die Menschenwürde eines jeden einzelnen. Ihr sollte in allen Begegnungen grundsätzlich in Form gegenseitiger Achtung statt gegeben werden. Geschieht Achtung nur einseitig, kippt die Balance. Es ist keine Schande, ein Flüchtling zu sein, auch keine, ein Helfer zu sein, auch keine, skeptisch zu sein, doch es ist eine, herzlos, unmenschlich und unnachgiebig zu sein…
Ich wünsche Dir ebenfalls einen schönen Abend 🙂
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Wunderbar gesagt/geschrieben… Vielen lieben Dank dir!
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Ich hab Dir zu danken. Finde deine Geschichten wichtig…✨
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Oh, das freut mich sehr. Vielen lieben Dank nochmals…
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