Sie reden von Flüchtlingsströmen, von einer Flut, die uns überrollt. Sie reden von Grenzschutz, von Verteidigungsmaßnahmen, gerade so, als wäre man im Krieg. Sie reden von Überfremdung, von Migrationsdruck, von Wirtschaftsflüchtlingen. Sie reden von Islamismus, von Terrorismus, von Invasion, von brutalen Horden. Sie reden von nationaler Identität, von einem drohenden Kollaps, vom Ende Europas. Sie reden von Bürgerwehren, von Widerstand, wie bei einem feindlichen Angriff.
Sie reden davon, dass ja nur junge Männer kommen würden, und damit meinen sie wohl auch ihn, denn er ist ein junger Mann, vielleicht zwanzig Jahre alt, vielleicht noch jünger, gekommen aus einem fernen Land in Afrika, derzeit einquartiert in einer Flüchtlingsunterkunft. Sie reden von Menschen wie ihm, aber sie reden nicht mit ihm. Man kann nur mutmaßen, warum sie nicht mit ihm reden; vielleicht interessieren sie sich nicht, vielleicht haben sie Angst, wovor auch immer, vielleicht finden sie keinen Zugang. Und womöglich haben sie einfach keine Zeit. Nicht einmal fünf Minuten.
Wenn sie diese fünf Minuten hätten, würden sie danach wohl nicht viel mehr über ihn wissen, schließlich lernt man in fünf Minuten niemanden wirklich kennen. Wenn sie diese fünf Minuten hätten, würden sie natürlich nicht sehr viel erfahren, aber zumindest ein wenig. Nämlich das.
Seine Stimme ist klar, in einem Moment erstaunlich hoch, dann wieder tief und leicht rasselnd. Wenn er spricht, schaut er zur Seite, ansonsten häufig direkt in die Augen. An seiner Schläfe ist eine Narbe. Er war rund sechs Monate unterwegs, zu Fuß durch trockenes Land und leere Gegenden, hin und wieder auf der Ladefläche eines Lastwagens, dann auch auf einem Boot, und immer wieder zu Fuß, in löchrigen Schuhen. Sein Bruder ist tot, von seiner Schwester weiß er nicht, ob sie noch lebt und wo. Wenn er lacht, wirkt er noch jünger. Er mag Fußball. Ein Einschussloch ist deutlich größer als eine Kugel. Er hat kürzlich zum ersten Mal Schnee gesehen. Seine linke Hand zittert, die rechte Hand nicht. Er weiß nicht, was mit ihm geschehen wird, in den kommenden Tagen und Wochen, in den kommenden Jahren. Seine Zähne sind schlecht, vom Brot isst er nur das weiche Innere, die Rinde legt er zur Seite.
Fünf Minuten mit ihm. Sie würden vielleicht gar nichts verändern, diese fünf Minuten. Vielleicht aber doch, vielleicht würden sie helfen, mit der Angst umzugehen. Aber es gibt sie nicht, diese fünf Minuten, nicht von ihnen, nicht für ihn. Sie haben keine Zeit. Sie bleiben ihm fern, er bleibt ihnen fremd. Und sie reden weiter von Flüchtlingsströmen und Überfremdung und Widerstand.

Ein Text, der so richtig ist, daß es schon fast weh tut.
Es ist egal, ob es 5 Minuten sind oder mehr, oder doch weniger.
Wichtig ist aber vor allem auch die Einstellung, die grundsätzliche, und warum ängstlich zurückweichend oder auch kampflustig, wenn da einer steht, der flüchten mußte, wie so viele unserer Großeltern oder auch Eltern.
Auch da war der Anfang schwer, die wurden scheel angesehen, ihnen wurde oft kein Bissen gegönnt und es wurde ihnen übel genommen, daß sie überhaupt angekommen waren.
Und alle hatten doch eine helle Hautfarbe, sprachen die gleiche Sprache, nur anders gefärbt, schon sie wurden nicht gerne angenommen, schon immer war wohl die Angst auf beiden Seiten, bis sie sich einander annähern konnten. Mit der Zeit und nach und nach…
Ob vertrieben – damals – oder geflüchtet, es machte keinen Unterschied dort, wo sie ankamen.
Am Boden zerstört durch den Verlust der Heimat standen sie da und die Schrecken der Flucht steckte ihnen noch tief in den Gliedern.
Wir müßten es doch gut verstehen, wie sich ein frisch Angekommener fühlt, sind wir doch auch so oft die Kinder der Vertriebenen oder Flüchtlinge…
Bei mir war es der Vater, der aus Niederschlesien kam.
Aber immer gab es auch Menschen, die aufnahmen und annahmen.
Bei mir meine Mutter, eine Saarländerin.
Wir müßten es verstehen
LikeGefällt 3 Personen
Oh ja. Wir müssten doch. Müssten verstehen, müssten gelernt haben. Gelingt aber offenbar nicht allen. Und manchmal macht es Angst, zu erkennen, wie gross und tief die Angst scheint…
Auf der anderen Seite gibt es wohl gewisse Reaktionen, die tief im Innern wurzeln. Gab’s auch in der Flüchtlingsunterkunft. Dort gab’s welche, die schon ein paar Wochen dort untergebracht waren. Als Neuankömmlinge eintrafen, sahen sie sich genötigt, diesen zu signalisieren, dass sie mehr zu sagen hatten, weil sie ja schon länger da waren…
Wie auch immer; wenn wir einander als Menschen erkennen, ist schon mal viel getan…
Vielen lieben Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Gedanken… Herzliche Grüsse…
LikeGefällt 1 Person
Jeder Mensch eine Geschichte. Und jede bringt dir Tränen in die Augen.
Aber, sie bringt auch Hoffnung. Denn du hast sie dir genommen. Die fünf Minuten. Und trägst es weiter.
Und du wirst auch in ihm unbändige Kraft sehen. Und Stolz. Und viele positive, schöne Dinge. Die dich vielleicht stolz machen und freuen, das sie geblieben sind in all dem Leid
So wie dein Ohr ihn doch fühlen lassen, das nicht jeder Mensch hier ablehnend und gemein ist……
LikeLike
Es gibt viele Menschen, die ihr Leben zurückstellen, um anderen zu helfen; Menschen, die dieses Helfen vielleicht als Aufgabe, als Berufung begreifen. Das ist ungemein bewundernswert, kann aber wohl nicht jede und jeder. Aber ich denke, es kann schon – für alle Beteiligten – bereichernd sein, wenn man aus dem relativ behüteten Dasein einmal in jene anderen Welten blickt, nur vorübergehend, selbst wenn’s tatsächlich nur fünf Minuten oder ein paar Tage sind… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
LikeGefällt 1 Person
Ja, so sehe ich es auch. Und wenn jeder nur ein klein wenig…
LikeGefällt 1 Person