Ihr Vater sagte ihr einst, es sei keine Schande, zu weinen, solange die Tränen dem Herzen entsprängen und nicht dem Kopf. In seinen Worten und mit seiner Stimme klang das so wichtig und richtig, so weise und wahrhaftig. Wenn sie den Satz auf ein Blatt Papier schreibt, fällt es ihr mitunter schwer, überhaupt zu verstehen, was da geschrieben steht.
Manchmal ertappt sie sich dabei, wie sie auf ihrem Mobiltelefon seine Nummer wählt. Hin und wieder wartet sie sogar ab, bis die mechanische Frauenstimme im Hörer ihr mitteilt, dass der gewählte Netzteilnehmer derzeit nicht erreichbar sei. Manchmal ertappt sie sich auch dabei, wie sie ihre eigene Nummer wählt. Hin und wieder wartet sie sogar ab, bis sie das Besetztzeichen hört.
1937 fiel in Detroit ein Baby aus dem Fenster in der vierten Etage eines Gebäudes. Unten auf dem Bürgersteig prallte es jedoch nicht auf den Asphalt, sondern auf Joseph Figlock, einen Straßenarbeiter. Figlock und das Baby wurden nur leicht verletzt. Ein Jahr später, 1938, fiel in Detroit ein weiteres Baby aus einem Fenster, und erneut traf es Joseph Figlock. Wieder überlebten beide den Zwischenfall.
Einmal stand sie an der Brüstung eines Hochhauses und blickte nach unten. Sie stellte sich vor, wie sie nach unten fallen und dort genau auf ihren Vater treffen würde. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie den Aufprall überleben würde. Und sie war überzeugt, dass ihr Vater beim Zwischenfall sterben müsste.
Obwohl sie schon seit einer Ewigkeit oder zumindest seit einer halben Stunde an der gleichen Stelle liegt, sind die Bretter unter ihrer nackten Haut noch immer kalt. Es scheint, als würde sich der Parkettboden gegen ihre Körperwärme wehren. Vielleicht reicht auch ihre Wärme nicht aus. Sie versucht, sich zu erinnern, wann sie zum letzten Mal Fieber hatte. Sie sieht ihren Vater, der ihr einen nassen kalten Lappen auf die Stirn legt. Ob er tatsächlich da war, weiß sie nicht genau. Es wäre möglich, und manchmal genügt diese Möglichkeit. Sie legt ihren Unterarm auf ihre Stirn. Sie ist kalt.
Als ihr Vater zum ersten Mal ging, ließ er ihr eine kleine schwarze Katze zurück. Sie nannte die Katze Othello, obwohl sie ein Weibchen war. Einige Wochen später lag die Katze eines Abends röchelnd auf ihrem Bett, zuckte immer wieder heftig, verkrampfte sich. Irgendwann hörte sie auf, sich zu bewegen, der Atem blieb aus. In kürzester Zeit wurde Othello ganz starr und hart, gerade so, als wäre sie eine pelziges Stück Kunststoff. Sie versuchte, die merkwürdig abgespreizten Beine zurück an den kleinen Körper zu drücken, doch bald gab sie auf, aus Angst, die kleinen Knochen zu brechen. An jenem Abend entsprangen die Tränen nicht dem Kopf.
Sie hat nur noch wenige Fotos von ihm. Auf einer Abbildung trägt er eine Feuerwehruniform. Er war nur ein paar Monate lang in der freiwilligen Feuerwehr aktiv, doch sie weiß, dass er dabei mehreren Menschen das Leben gerettet hat. Sie weiß es ganz genau.
Als ihr Vater zum zweiten Mal ging, war sie nicht zu Hause. Sie war unterwegs, mit Freunden oder mit Leuten, die sie Freunde nannte, und sie war sehr betrunken. Sie war es noch immer, als man sie benachrichtigte. Und wahrscheinlich ist sie seither nicht mehr nüchtern geworden.
Sie zuckt ein wenig zusammen, als sie hört, wie unmittelbar unter ihrem Kopf ein Tropfen auf den Boden prallt und dabei die vollkommene Stille im Raum vorübergehend aufhebt. Sie blickt auf die Träne, die innert weniger Sekunden verdunstet, wie der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein. Ihr Vater sagte ihr einst, es sei keine Schande, zu weinen, solange die Tränen dem Herzen entsprängen und nicht dem Kopf. Manchmal ist sie erstaunt darüber, wie die Tränen vom Herzen bis zu den Augen gelangen.

Mit dem beschriebenen Aufprall der Träne auf dem Boden und der unterbrochenen Stille zieht es mich in das Geräusch des Aufpralls hinein, ganz einem Zoom…
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Wie schön, dass du dich hast hineinziehen lassen… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. Und liebe Grüsse…
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Der Weg der Tränen, die aus dem Herzen entspringen, kann so weit sein.
Sie legen Monate und Wochen zurück und haben sie dann die Stelle gefunden, an der sie eine Quelle sein können, liegt schon viel Qual hinter ihnen, eine Qual, die keiner sah, weil keiner da war, der etwas erkennen konnte…
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…ja, und manch eine Träne wird kurz vor dem Ausbruch abgefangen und hinuntergeschluckt… Herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Gedanken und Worte…
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Wow!
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Danke!
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