Seine Frisur war fürchterlich. Er wohnte nebenan, war drei Jahre jünger als ich, und damals waren diese drei Jahre von gigantischen Dimensionen, sie ließen sich kaum einschätzen. Sein Name war Thomas, und eigentlich mochte ich Thomas nicht. Er war nicht nur schrecklich jung, sondern auch schrecklich langweilig, ziemlich dumm und zugleich ziemlich laut. Und eben, die Frisur war fürchterlich. Doch alle anderen Kinder aus der Nachbarschaft waren an jenem Tag nicht zu Hause, waren in Urlaub gefahren oder zu ihren Großmüttern und deren merkwürdig riechenden Wohnungen. Thomas war der einzige, der dageblieben war. Also verbrachte ich an jenem heißen Sommertag die herumliegende Zeit mit ihm.
Zunächst spielten wir ein wenig Fußball, doch alsbald schwand die Begeisterung und machte Platz für eine lähmende Gleichgültigkeit. Nach einigen Minuten im gelangweilten Schwebezustand fasste ich den Entschluss, mit Thomas und seiner schrecklichen Frisur auf Entdeckungsreise zu gehen.
Ich kannte die Welt bestens, zumindest jene Welt, die sich bis zur Schnellstraße erstreckte. Auf der anderen Seite der Schnellstraße begann eine neue Welt, unbekannt und schweigend. Ich war mir ihrer bewusst, hatte sie schon häufig betrachtet, aus sicherer Distanz. Ich erkannte die dunklen Wälder auf der anderen Seite, die fernen Hügel. An manchen Tagen drängte sich dicker Nebel zwischen die Wipfel, dann wieder hing ein gelber Schimmer in den Bäumen. Doch die Grenze zu dieser unbekannten Welt, die Schnellstraße, sie blieb unüberwunden. Bis zu jenem Tag in jenem heißen Sommer.
Er solle keine Angst haben, sagte ich zu Thomas, der sich wie erwartet als kleine Memme entpuppte. Ich selbst war natürlich vor jeglicher Angst gefeit, schließlich war ich drei Jahre älter und im Prinzip kurz vor erwachsen. Dass ich kaum atmen konnte, hatte zweifellos andere Gründe, eine verschleppte Erkältung vielleicht, oder gar bislang unerkannt gebliebenes Asthma. Ich wartete mit Thomas am Rand der Schnellstraße, bis ich sicher war, dass kein Auto kam. Dann rannten wir auf die andere Seite.
Zuerst kam eine Wiese, dann kam der Wald, und als man den Wald betrat, schwand das Licht. Die Wärme entwich, die Luft war plötzlich kühl und feucht. Die knorrigen Bäume ragten schroff und schief aus dem Boden, manche weit nach oben, andere schräg und bucklig zur Seite. Ein braungrüner Teppich schien alles zu bedecken und verschluckte die vereinzelten Sonnenstrahlen, die das Dickicht zu durchdringen vermochten. Es war finster, weit weg vom heißen Sommertag, aus dem wir gekommen waren. Ich machte einige Witze, doch Thomas verstand sie nicht, und ich mochte auch selbst nicht lachen.
Zwar hatte ich durchaus geahnt, dass diese Welt sich unterscheiden würde vom Gewohnten, ich war wohl auch vorbereitet darauf, Dinge zu sehen, die ich mir zuvor nicht einmal hätte vorstellen können. Doch noch verwunderlicher als die visuellen Eindrücke war ein unerklärliches Phänomen. Ein dumpfes Gefühl füllte meinen Körper, ich spürte einen unausweichlichen Druck, der von allen Seiten wirkte. Ich fühlte mich beinahe so wie damals, als ich im tiefen Schwimmbecken bis hinunter zum Grund getaucht war. Das Rauschen im Ohr schwoll zum Dröhnen an, die Schwerkraft zerrte vehement, die Knie zuckten und gaben nach. Nur mit Mühe konnte ich mich auf den Beinen halten. Das Bild begann zu beben und flirren, die Luft schien elektrisch aufgeladen zu sein und sich in Wellen zu entfalten.
Lass uns verschwinden, presste ich hervor, doch als ich mich Thomas zuwendete, sah ich ihn auf dem feuchten Waldboden liegen. Sein kleiner Körper zuckte, die fürchterliche Frisur schien zu tanzen, und die Haut im Gesicht hatte sich dunkelrot verfärbt. Ich glaubte ein kurzes Röcheln zu vernehmen, doch ansonsten blieb der ansonsten doch ziemlich laute Thomas erschreckend stumm. Nach einem vorübergehenden Erstarren stürzte ich mich taumelnd und brüllend zu Boden und versuchte, den kleinen Körper irgendwie hochzuheben.
Ich weiß nicht mehr, wie wir aus dem Wald gekommen waren. An der Schnellstraße schaute ich nicht links, nicht rechts, sondern rannte so schnell wie möglich auf die andere Seite, den kleinen Thomas noch immer auf dem Buckel tragend. Zu Hause angekommen war ich ziemlich erleichtert darüber, dass er zwar ziemlich mitgenommen aussah und die Frisur sogar noch fürchterlicher war als üblich, ansonsten aber alles wieder in Ordnung schien. Noch immer starrte Thomas entgeistert zu Boden, doch er atmete ruhig und gleichmäßig, und aus einem ersten Murmeln wuchsen allmählich ganze Sätze, die jedoch lediglich Variationen der gleichen Frage darstellten.
Später gab es eine Schimpftirade von den Eltern und das unmissverständliche Verbot, die Schnellstraße noch einmal zu überqueren, doch eigentlich wäre das gar nicht notwendig gewesen. Ich hatte zwar das Gefühl, dort auf der anderen Seite etwas verloren zu haben. Doch ich wusste nicht genau, was es war. Und ich hatte keine Lust, danach zu suchen.
Einige Jahre später zog ich mit meiner Familie in eine andere Stadt. Thomas habe ich seither nie mehr gesehen. Vielleicht ist die Frisur noch immer fürchterlich. Aber vermutlich hat auch er mittlerweile die Schnellstraße überqueren müssen.

oh oh, lieber Disputnik, ich glaube, diese Geschichte sollte ein Psychologe lesen.
Er könnte jetzt genau analysieren, was die beiden so aus dem Gleichgewicht brachte *lächel*,
die Frisur von Thomas was es nicht 🙂
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Nein, die Frisur von Thomas war’s definitiv nicht… Herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte… Liebe Grüsse!
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