Man war längst kein Kind mehr, aber auch noch nicht wirklich erwachsen; man taumelte irgendwo dazwischen, in einer Schleuse zwischen den Zeiten, diffus und verführerisch zugleich. Manche standen auf wackligen Beinen im Berufsleben, andere studierten, wieder andere überlegten noch, was auch immer. Einige wohnten noch bei ihren Eltern, einige hatten bereits ihre eigenen Wohnungen, klein und billig, aber durchweht von Idealismus, schrulligen Ideen und Improvisationen, mit Holzkisten als Möbel und dünnen Matratzen. Das Leben war eine Ansammlung von Skizzen, von rudimentären Entwürfen. Jeder Einzelne war so einzigartig wie alle anderen, jeder hatte seinen Platz, auch wenn es vielleicht noch nicht der richtige war, und einer von ihnen war der Friseur.
Er war stets ziemlich schweigsam, sein Rücken war leicht gekrümmt, weil er seinen Blick mit Vorliebe auf den Boden richtete. Er war nicht sonderlich witzig, nicht sonderlich umgänglich, nicht sonderlich hübsch, nicht sonderlich liebenswert, aber man mochte ihn dennoch; er gehörte dazu, gehörte in dieses holzschnittartige Gebilde voller Persönlichkeitsentwürfe und Lebenslinien. Er war kein echter Friseur, hatte weder die notwendige Ausbildung noch eine entsprechende Arbeitsstelle, doch er hatte Leidenschaft, Enthusiasmus und Ideen, er hatte Scheren, Kämme und einen elektrischen Haareschneider. Er hatte sogar eine kleine Tasche, in welcher er alle Utensilien verstaute und die er mitbrachte, wenn sich jemand die Haare schneiden lassen wollte.
Der Friseur verlangte für seine Dienste kein Geld, allerdings oblag es dem oder der Frisierten, für den jeweiligen Abend Alkohol und Rauchwaren für alle Anwesenden beizusteuern. Wenn nun jemand einen neuen Haarschnitt wünschte, traf man sich in einer der kleinen Wohnungen, man trank und rauchte, lachte und hörte Musik. Irgendwann machte sich der Friseur ans Werk, während man weitertrank und weiterrauchte, lachte und Musik hörte. Bisweilen war auch der Friseur ziemlich betrunken, aber die Haarschnitte und Frisuren, sie waren ausnahmslos einwandfrei, waren jedes Mal passend und einzigartig. Der Friseur, er verstand sein Handwerk, das wusste man. Viel mehr wusste man aber nicht über ihn. Man kannte keine Einzelheiten seines Daseins. Niemand wusste genau, wo er wohnte, was und wo er arbeitete, wie er seine Tage und Nächte zu verbringen pflegte. Manche kannten nicht einmal seinen Nachnamen, er war einfach der Friseur. Wovon er träumte und wonach er sich sehnte, schien niemanden wirklich zu interessieren, oder der Friseur war geübt darin, derartigen Fragen auszuweichen. Er entschied zu weiten Teilen, mit welcher Haarpracht man die Lebensskizzen durchschritt, kaum etwas war so formvollendet und von Bestimmtheit geprägt wie die Frisuren, die er kreierte. Er selbst blieb jedoch ungreifbar, blieb unbekannt, wenn auch nicht fremd. Und dann, irgendwann, verschwand er. Oder man selbst verschwand, es machte keinen Unterschied. Die Lebenslinien veränderten sich, die Frisuren veränderten sich. Man vermisste ihn wohl nicht. Aber er fehlte.
Bisweilen blitzte etwas von ihm auf, wie die Klinge einer Schere im hellen Licht. Einmal hörte man, dass er einen kleinen Friseurladen aufgemacht habe, jedoch wenig erfolgreich war und bald wieder schließen musste. Dann wieder wurde vermutet, dass er ausgewandert sei. Aber sicher war man sich nie, es blieb stets bei Gerüchten und Mutmaßungen. Nur ein einziges Mal gab es Gewissheit. Als man die Todesanzeige las, erkannte man zunächst gar nicht, von wem die Rede war. Da stand nicht geschrieben, dass er Friseur war. Da standen einfach ein Name, ein Geburtsdatum, ein Todesdatum. Nur allmählich drang ins Bewusstsein, dass man irgendwann zwischen diesen beiden Daten die Finger dieses Menschen auf der Kopfhaut gespürt und den Duft seiner Haut eingeatmet hatte, in irgendeiner kleinen Wohnung, durchweht von Idealismus, schrulligen Ideen und Improvisationen, mit Holzkisten als Möbel und dünnen Matratzen. Damals, als das Leben eine Ansammlung von Skizzen war.

Eine geniale Geschichte, wie auch jene, die ich heute hier gefunden und bereits gelesen habe! Aber vor allem die Sprache finde ich faszinierend. Ich sehe schon, ich muss mich da Schritt für Schritt durcharbeiten, bis ich alle Geschichten gelesen habe. Es wird sicher einige Zeit dauern, aber es lohnt sich bestimmt – ist ein Genuss!
LG
Annie H. / Herbststill
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Oh, wie schön, das freut mich sehr! Ob du noch durcharbeiten magst oder nicht; in jedem Fall herzlichsten Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
Herzliche Grüsse…
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