Sie steht in der Küche und blickt mit starren Augen auf den Wasserhahn. Nichts geschieht. Keine Regung. Sie ist zu Gast in einem Standbild. Mit ihren schmalen Fingern ertastet sie das Ventil des Hahns. Es ist trocken und kalt, nur ein wenig Kalk bröckelt ab. Sie dreht das Wasser auf und gleich wieder ab, das Rauschen dauert nur eine Sekunde, dann verstummt es wieder. Da ist kein Tropfen.
Dieses Tropfen, dieses Geräusch, sie hört es schon seit Stunden, seit Tagen; die Zeit dehnt sich aus, wenn sie vom Ewiggleichen strukturiert wird. Plopp. Dann Stille. Plopp. Stille. Plopp. Stille. Wo immer sie auch sucht, wie aufmerksam sie auch lauscht, sie findet nicht heraus, wo das Geräusch seinen Ursprung hat. Sie steht nicht zum ersten Mal in der Küche und starrt auf den Wasserhahn. Auch im Badezimmer bleibt der Wasserhahn still. Sie drückt ihr Ohr an die Wände, legt es auf den Boden, geht in jeden Winkel in jedem Zimmer. Nichts. Der stete Tropfen höhlt sie aus, und sie weiß nicht, woher das Geräusch stammt.
Sie denkt daran, dass sich in jenem Haus, in dem sie wohnt, vor etwa fünfzig Jahren ein Doppelmord ereignet hat, ein Liebesdrama wahrscheinlich. Sie fragt sich, weshalb sich in ihrem Leben nichts Derartiges ereignet, Liebe, Morde, Dramen. Dann hätte sie zumindest etwas zu erzählen im Jenseits. Obschon sie gar nicht an das Jenseits glaubt.
Plopp. Stille. Plopp. Stille. Sie geht ins Wohnzimmer, stellt sich ans Fenster, öffnet es ganz langsam und vorsichtig. Draußen schweigt die Welt, alles bleibt stumm. Sie erinnert sich an den Steinbruch, den sie als Kind einige Male aufgesucht hatte. Diese großen Gesteinsbrocken, diese gewaltigen Massen, die erdrückende Macht, das unvorstellbare Gewicht; und doch war es nirgends stiller als dort, zwischen den scharfkantigen Steinen. Damals hörte sie noch kein Tropfen.
Sie steht am Fenster und starrt in die leeren Stellen der Welt, während die kühle Luft allmählich durch ihre Haut dringt.
Plopp. Stille. Plopp. Stille. Plopp. Sie denkt wieder an den Doppelmord und versucht, sich die Schreie der Menschen vorzustellen, ihre letzten Laute vor dem ewigen Schweigen. Sie fragt sich, ob man in einem solchen Moment noch merkt, dass man gerade stirbt. Und ob sie selbst in dieser Situation zumindest froh wäre, wenn das Tropfen aufhört. Sie schließt das Fenster, geht wieder in die Küche, dreht das Wasser bis zum Anschlag auf und betrachtet unentwegt den Punkt, an dem der Wasserstrahl im Spülbecken zerschellt.

hier ist mal der Link dazu, wenn Du magst und jede Menge Zeit übrig hast *g*
http://wortbehagen.de/index.php/gedichte/2012/januar/ungehoerte_schreie
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Steter Tropfen höhlt den Stein…
oh ja, das tut er und ständig dieses Tropfen, das kann den Geist löschern und ihm dustere Gedanken eingeben, leises Fürchten vor dem Unbekannten…
Hier ist es der Doppelmord, der in ihrem Kopf herumspukt und die letzten Schreie der Sterbenden, die nicht wußten, wie ihnen geschah.
Ich habe vor einigen Jahren ein *Gedicht* geschrieben, das Ungehörte Schreie hieß und ich habe mit Absicht kein Bild dazugesetzt, weil ich kein einziges fand, das den Worten gerecht wurde. Hier sehe ich eines vor mir, aber nur in meinen Gedanken und leider kann ich sie in diesem Moment nicht fotografieren, sie würden passen.
Herzliche Grüße von Bruni
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Oh, schön, dass dich der Text an ein Werk von dir erinnert… Ich werd’s dann noch suchen und dann schauen, welche Bilder in meinem Kopf entstehen… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni..
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Ich werde ihn selbst mal noch nachlesen,lieber disputnik.
Ich habe nur noch den Titel im Kopf u. weiss,das mir
kein Bild dazu passte…
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