Ungespielt.

Da wohnt niemand mehr, da klammert sich nur noch der Staub der vergangenen Zeit an die Dinge, da trägt jeder Widerhall nur noch ein ewiges Schweigen mit sich. Das Pulsieren ist vorbei, der Fluss ist ausgetrocknet, alles ruht. Irgendwo steht ein Klavier, doch wenn niemand mehr die weißen und schwarzen Tasten drückt, erklingt kein Ton … Weiterlesen Ungespielt.

Wasserfarbenbild.

Auf einem Flohmarkt siehst du ein Gemälde, ein fürchterlich kitschiges Wasserfarbenbild, es zeigt eine klischeehafte Szene in Paris, mitsamt Metro-Schild und Eiffelturm im Hintergrund, und deine Lider drängen nach unten, um deine Augen vor dem Anblick zu beschützen, doch du wehrst dich, starrst noch einige Sekunde auf das entsetzliche Werk, nicht nur, weil das Hässliche … Weiterlesen Wasserfarbenbild.

Altpapier.

Sie wohnte im großen Backsteinhaus am Ende der Straße, in diesem unförmigen Brocken mit breiten Wänden und riesigen Fenstern. Hin und wieder sah er sie, wie sie auf hohen Schuhen über den Asphalt ging, ruhig und beinahe schwebend. Sie war schlank, ihr Rücken außergewöhnlich gerade, die hellen Haare flossen in sanften Wellen ihrem Gesicht entlang, … Weiterlesen Altpapier.

Kokosnusslikör.

Am Ende eines warmen Tages saß man dort, am Waldrand beim kleinen Felsen. Ein Feuer brannte, mitunter viel zu heiß und hell. Man trank Bier und Wein und klebrigen Kokosnusslikör, man rauchte Gras und Zigaretten, und hin und wieder lachte jemand völlig ohne Grund. Aus einem kleinen Radio mit CD-Spieler erklang Musik von Tocotronic. So … Weiterlesen Kokosnusslikör.

Socken, selektiv.

Es war warm am einzigen Abend mit ihr, trockene Grashalme kitzelten die Stellen zwischen den Zehen, man war barfuß im Park, und irgendwann wurde es dunkel, und man zog sich Socken und Schuhe wieder an, warum auch immer, denn es war nach wie vor warm, doch eigentlich ist es egal, es spielt keine Rolle, was … Weiterlesen Socken, selektiv.

Die Katze ist tot.

Die Katze fiel vom Fenstersims. Sie landete auf den Beinen, Katzen landen fast immer auf den Beinen. Das war natürlich erfreulich, und als die Katze offensichtlich unverletzt auf dem Asphalt stand, dürfte sie wohl auch eine adäquate Erleichterung verspürt haben. Zwar war es nur die zweite Etage gewesen, aus welcher sie gefallen war, doch in … Weiterlesen Die Katze ist tot.

Retro.

Früher waren da andere Farben in den Fotos. Da war mehr Gelb, da waren mehr rötliches Braun und mehr bräunliches Rot, da war weniger Blau, und wenn da Blau war, dann ein wärmeres Blau als heute. Die Kleider der damaligen Kinder wirkten dicker und wärmender als die Kleider der heutigen Kinder. Und wenn Bildbearbeitungsprogramme versuchen, … Weiterlesen Retro.

Bild ohne Ton.

In allen Bildern der verlorenen Zeit wohnt ein Klang; manchmal Musik, manchmal das eigene Atmen, laut und müde, manchmal auch nur das Rauschen, das bleibt, wenn alles schweigt. Alle Bilder, real oder irreal, tragen die Möglichkeit einer Geräuschkulisse, alle Bilder lassen sich in Gedanken vertonen. Nur dieses Bild nicht. Das Seil geht mitten durch den … Weiterlesen Bild ohne Ton.

Sie hieß Kurt.

Er war eine schöne Frau. Vielleicht nicht von außen, ganz sicher nicht aus der Distanz, aber womöglich aus der Nähe. Und hoffentlich im Innern. Merkwürdigerweise traf man sie stets an der Altglassammelstelle in der Nähe des Einkaufszentrums. Manchmal entsorgte sie ihre Flaschen dort, manchmal stellte sie auch einfach ihr Moped auf den Parkplatz neben den … Weiterlesen Sie hieß Kurt.

Orion.

Der riesenhafte Jäger Orion befreite die Insel Chios von wilden Tieren. Dort verliebte er sich in Merope, die Tochter des Oinopion. Jedoch stimmte Oinopion einer Vermählung nicht zu. Wütend versuchte Orion, Merope mit Gewalt zu nehmen, was ihren Vater veranlasste, ihn betrunken zu machen und ihm die Augen auszustechen. Der erblindete Orion aber schritt gegen … Weiterlesen Orion.

Dort, ein Buch.

Einst, vor vielen Jahren, stand ich in einer Buchhandlung im engen Raum zwischen den Regalen und blätterte in einem Buch. Der Autor hatte Briefe an Firmen oder bekannte Persönlichkeiten geschrieben. Diese Briefe und die Antworten darauf waren abgedruckt. Das Buch schien unterhaltsam zu sein, es lag in der Humor-Abteilung auf, neben anderen Büchern, die mit … Weiterlesen Dort, ein Buch.

Die Haut wirft Falten.

Wenn er nackt im kalten Badezimmer steht und seinem Körper entlang nach unten blickt, sieht er den Penis eines alten Mannes. Er nimmt ihn zwischen die Finger, dreht und wendet ihn lustlos. Er fühlt sich klein und fremd an, ein absonderliches Ding, die Haut wirft Falten, aber das tut sie am gesamten Körper. Das Hautkleid … Weiterlesen Die Haut wirft Falten.

Luigi und Gandhi.

Sein Name war Luigi, zumindest stand dieser Name auf dem kleinen Holzschild, mit welchem er seinen Imbisswagen beschriftet hatte, und damals glaubte sie fast alles, was sie sah, vor allem am Strand in der Nähe von Pescara an der italienischen Adriaküste. Sie war sieben Jahre alt, acht Jahre alt, dann neun, dann zehn, elf, zwölf, … Weiterlesen Luigi und Gandhi.

Das Gift im Zahn.

Womöglich spielt es keine Rolle, wann es begann und weshalb. Die Details verlieren zunehmend an Relevanz. Im Vergleich zum Aufbau, zur Formung verläuft der Zerfall meistens in größeren Stücken, in groben Brocken, die sich lösen und zu Boden stürzen, häufig stumm und kaum bemerkt. Hin und wieder blättern sie in den alten Fotoalben auf der … Weiterlesen Das Gift im Zahn.

Er steigt aus.

Zuerst glaubt er, ein leises Rauschen zu hören, als würde Luft aus einem Fahrradreifen entweichen. Es kommt nicht von draußen, es ist nur in seinem Kopf, denn wenn der Mann die Handflächen fest auf seine großen Ohren drückt, bleibt das Geräusch unverändert. Er wird ein wenig unruhig, blickt sich vorsichtig um, doch die anderen Passagiere … Weiterlesen Er steigt aus.

Guadalajara.

Guadalajara. Guadalajara. Guadalajara. Sie wiederholt das Wort immer wieder, einem Mantra gleich. Sie hat keine Ahnung von Guadalajara. Es ist eine Stadt in Mexiko. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1986 fanden dort Spiele statt, 1992 kam es zu einem Explosionsunglück im Kanalnetz der Stadt. Mehr weiß sie nicht über Guadalajara. Und trotzdem flüstert sie dieses Wort unaufhörlich … Weiterlesen Guadalajara.

Scherbenreflexion.

Es begab sich zu einer Zeit, als sogar die Kleenex-Schachtel neben seinem Bett Staub ansetzte. Vor den Fenstern wurde es längst nicht mehr richtig hell, die Zeitformen in seinem Dasein zankten sich darüber, welche von ihnen die größte Gleichgültigkeit aufwies. Wenn das Telefon klingelte, hielt er sich die Ohren zu, und irgendwo zwischen existenzialistischen Malereien … Weiterlesen Scherbenreflexion.