Er war eine schöne Frau. Vielleicht nicht von außen, ganz sicher nicht aus der Distanz, aber womöglich aus der Nähe. Und hoffentlich im Innern.
Merkwürdigerweise traf man sie stets an der Altglassammelstelle in der Nähe des Einkaufszentrums. Manchmal entsorgte sie ihre Flaschen dort, manchmal stellte sie auch einfach ihr Moped auf den Parkplatz neben den Containern und ging in die Stadt. Sie hatte ihren eigenen Stil gefunden, trug stets einen engen Rock, eine bunte Bluse, eine weiße Kunstlederjacke, Schuhe mit hohem Absatz, hautfarbene Strümpfe. Das Gesicht wirkte ein wenig aufgequollen, war alt und rund und fleischig, die Lippen waren blutrot geschminkt, die Augen dick umrandet, die Barthaare standen nicht selten in ungepflegten Stoppeln, die Kurzhaarfrisur entstammte längst vergangenen Zeiten, und wenn sie einen Hut trug, war er in der Regel riesig.
Sie war das, was ein Original genannt wird, und wenn von ihr gesprochen wurde, wurde meistens von ihm gesprochen, denn das Frausein wurde ihr nicht zugestanden, schließlich hatte sie einen Bart, eine männliche Figur, sie hatte einen Penis, er zeichnete sich manchmal ab unter dem Rock; eine Frau konnte sie somit nicht sein, also war sie ein Mann, so ist das nun mal. Sie gehörte zur Stadt wie die Trinker am Bahnhof, wie die Kioskfrau am Marktplatz, wie der Prediger in der Gasse, doch über sie wurde ungleich häufiger gelacht, und manchmal fragte man sich, ob sie die Sprüche hörte, ob sie die Blicke spürte, ob sie das stetige Kichern registrierte und was sie damit machte.
Eines Tages, an der Altglassammelstelle, sprach man sie an, ein beiläufiger Satz. Man stand nebeneinander, warf Flaschen in den Container. Die Flaschen leeren sich fast von selbst, nicht wahr? Man wusste schon, dass die Frage ziemlich dumm war. Sie lachte trotzdem, ein warmes, kehliges, rasselndes Lachen. Jaja, gab sie zurück. Aber man ist in guter Gesellschaft mit den Flaschen. Und es hält warm, das Trinken. Man nickte und schaute in ihr Gesicht, registrierte ein feines Zucken in ihren Augen. Dann stand man wieder schweigend nebeneinander, warf Flaschen in den Container und lauschte, wie sie klirrend zu Scherben wurden.
Als sie verschwand, fiel es zunächst gar nicht auf. Man musste sich zuerst ganz zufällig an sie erinnern, um zu bemerken, dass sie fehlte. Man wunderte sich über ihren Verbleib, man schaute sich bei der Altglassammelstelle aufmerksam um. Schließlich fragte man einen, der alle kannte, und er sagte, ach ja, der Kurt. Der Kurt ist tot. Er war halt schon alt. Und obwohl man gerade erst den Namen erfuhr, war man traurig. Der Kurt. Er war eine schöne Frau. Vielleicht nicht von außen, ganz sicher nicht aus der Distanz, aber womöglich aus der Nähe. Und hoffentlich im Innern.

„Man ist in guter Gesellschaft mit den Flaschen“… das ist wohl die Tragik dieser Menschen, dass sie keine Gesellschaft mehr haben, dass wir ihnen keinen Gesellschaft geben, und wenn doch, dass sie of auch gar keine Gesellschaft mehr ertragen.
Toller Text!
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, für deine Gedanken und Worte!
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Ich glaube, wie sehen sehr oft nur die/eine/jene Fassade, weil wir wenig hinterfragen. Wir sehen, wie werten, wir urteilen, wir verstauen in ‚Schubladen‘, aber wir wissen sehr oft nur sehr wenig. Wenn wir irrtiert werden, schauen wir lieber woanders hin.
Sehr oft sehen wir auch das Schöne, ja, vielleicht auch die Schönheit des Schrägen oder in dem Schrägen, in dem, was neben ‚der Spur‘ liegt, gar nicht, zu wenig oder zu spät.
Es gibt so viele Feinheiten in der Welt, wie oft nehmen wir sie gar nicht wahr, weil wir meinen, schon zu wissen, obwohl wir noch nicht mal genau hingeschaut haben? Wie wenig wissen wir? Vom Gegenüber, welbst wenn er einem vermeintlich nah ist. Und von dem, der/was ‚fremd‘ ist, noch viel weniger. Auseinandersetzung und Hinterfragen kostet Energie, ein beständiges Offensein. Irritiertwerden macht Angst?
Hmm …
Ein schöner Text. Macht nachdenklich.
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Ja, es gibt viel Verborgenes, viele Feinheiten, viel zu viele, um auch nur ansatzweise alle zu sehen; man wäre wohl auch überfordert. Und doch, manchmal gibt man sich vielleicht zu schnell zufrieden mit dem Bild, das man sich auf den ersten Blick macht. Und lässt sich eben die Feinheiten entgehen…
Vielen lieben Dank für deinen wunderbaren Kommentar, fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Kurt hieß sie und sie macht uns *Normalos* sprachlos, behaupte ich jetzt mal, wenigstens auf den ersten und den zweiten Blick. Fremd ist sie, ist er uns und doch ein Mensch mit Wünschen, Sehnsüchten, mit einem Leben, das gelebt werden mußte und das sicherlich schwierig und doch auch schön (vielleicht schön schräg *lächel*) war.
Wir wissen es nicht, weil wir uns selten länger damit beschäftigen, es sei denn, wir haben eine stille Stunde und denken über die Kurts nach und alle die anderen, die anders sind als wir.
Ein ausgesprochen guter Text, lieber Disputnik, der sehr nachdenklich macht.
LG von Bruni zum späten Abend
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Manchmal sehen wir wohl einfach nur die Fassade, umso mehr, wenn sie aus dem Rahmen fällt… Vielen Dank dir, liebe Bruni, und herzliche Grüsse zurück…
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